Das Auge von Tibet
Jakli zog an seinem Arm, aber Shan rührte sich nicht von der Stelle. »Vor vielen Jahren war sie schwanger. Man erklärte ihr, sie müsse das Kind in einer Klinik der Regierung zur Welt bringen. Dort gab man ihr eine Spritze, und sie schlief ein. Als sie aufwachte, trug sie das Baby nicht mehr in ihrem Bauch. Es war tot. Später stellte sie fest, daß man sie außerdem sterilisiert hatte.«
Die wütende Frau sammelte einige Kiesel auf und warf damit nach Shan. »Danach hat sie sich verändert«, fuhr Jakli fort. »Im Winter sitzt sie einfach da, hält eine zusammengerollte Decke im Arm und singt ihr ein besik zhyry vor.«
» Besik zhyry ?« fragte Lokesh und ließ die Frau nicht aus den Augen.
»Die Kasachen haben für alles Lieder. Hochzeiten, Geburten, Pferderennen, den Tod eines Freundes, den Tod eines Pferdes«, erwiderte Jakli. »Sie singt Wiegenlieder, wie man sie sonst einem Baby vorsingen würde.«
Schweigend standen sie da. Einige der Kiesel trafen Shan am Bein.
»Jedesmal wenn ein Kind stirbt, glaubt sie, es sei ihr Kind gewesen«, fügte Jakli leise hinzu.
Im Licht bemerkte Shan, daß die Kleidung der Frau verdreckt war. An ihren schulterlangen Zöpfen hingen Reste getrockneter Blätter.
Als ihn ein größerer Stein am Knie traf, ließ Shan sich von Jakli wegführen. Doch gleich darauf blieb sie stehen. An einem Pfad, der auf den Hang oberhalb der Ställe führte, wartete Malik. Jakli wandte sich zu der Wahnsinnigen um, als würde sie sich lieber mit dieser Frau auseinandersetzen, als Malik zu folgen, stieß dann einen leisen Seufzer aus und bedeutete Shan, auf den Pfad einzubiegen. Während sie sich dem Jungen näherten, sah Shan, daß er einen kleinen Heidekrautzweig in der Hand hielt. Jakli bückte sich und hob ebenfalls einen solchen Zweig auf. Shan tat es ihr nach.
Unterwegs huschte plötzlich eine dunkle Gestalt an ihnen vorbei. Die Wut der Frau schien sich verflüchtigt zu haben und tiefen Schluchzern gewichen zu sein, die fast wie das Blöken eines der Tiere klangen.
In stummer Prozession folgten sie dem Verlauf des Pfades: erst die dunkle, gehetzt blickende Frau, dann Malik, Shan und Jakli. Nach ungefähr hundert Schritten betraten sie eine kleine Einfriedung dicht unter dem Kamm der Erhebung, einen geschützten Ort, der im Norden durch eine große Felsplatte abgeschirmt wurde und nach Süden in Richtung Tibet einen kilometerweiten Ausblick auf das Kunlun-Gebirge bot. Weiter hinten, im Schatten der Felsplatte, wölbte sich ein anderthalb Meter langer Erdhügel auf.
Links neben dem Grab waren die Pflanzen niedergedrückt. Die Frau hatte hier geschlafen, begriff Shan. Am Kopfende des kleinen Hügels lagen einige Rindenstreifen, auf denen jemand Speisenopfer dargebracht hatte, und am Fußende steckten zwei große Federn und mehrere Heidekrautzweige in der Erde. Shan und Jakli folgten Maliks Beispiel und fügten ihre Zweige in gleicher Weise hinzu.
Die Frau saß am oberen Teil des Grabes, wiegte sich vor und zurück und sang mit schmerzverzerrter Miene ein zärtliches Lied, ohne auf Shan zu achten.
Shan kniete hilflos am Fuß des Grabes nieder und wußte nicht, was er tun sollte. Kurz darauf kniete Jakli sich leise neben ihn und stimmte flüsternd ein kasachisches Gebet an. Malik stand hinter ihr und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Shan hörte ein Geräusch. Er drehte sich um und sah, daß Lokesh, Jowa und Akzu den Pfad heraufkamen.
Lokesh setzte sich neben das Grab und legte eine ausgestreckte Hand darauf. »Khitai«, sagte er leise und traurig und starrte mit offenem Mund auf die frisch umgegrabene Erde. Während die anderen ihm schweigend zusahen, griff der alte Tibeter mit der zweiten Hand nach seiner Gebetskette, lehnte sich zurück und begann mit einem leisen Mantra. Jowa nahm neben ihm Platz, holte zögernd seine eigene mala hervor und stimmte in die Litanei ein.
Die Frau am oberen Ende des Grabes blinzelte mehrere Male und rieb sich die Augen, als würde sie aus einer Trance erwachen. Verunsichert betrachtete sie die Anwesenden, als sei ihr nicht ganz klar, warum sich so viele Personen zu ihr gesellt hatten. Vielleicht fragte sie sich auch, wer aus Fleisch und Blut bestand und wer aus einer anderen Welt zu Besuch gekommen sein mochte. Ihr Blick legte sich erst auf Jowas, dann auf Lokeshs Gebetskette, woraufhin ihr Antlitz regelrecht erstrahlte. In ihrer Muttersprache richtete sie einige Worte an Akzu. Der Führer der Kasachen musterte die beiden Tibeter, antwortete ihr und
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