Das Auge von Tibet
Geheimnisse. Geheime Familien. Geheime Dissidenten. Geheime Militärstützpunkte.
Als Shan beiläufig ein weiteres Mal mit den Fingern durch die Erde fuhr, stieß er unvermittelt auf einen harten Gegenstand. Er grub tiefer und barg den Gegenstand, der sich als ein gebogenes Holzstück von der Größe seiner Handfläche erwies. Die einfache Schnitzerei ließ das Abbild eines fliegenden Vogels erahnen. Es konnte sich um eines von Khitais Spielzeugen handeln oder auch um ein religiöses Symbol. Shan steckte die ausgestreckten Finger in den Hügel und zog sie der Länge nach durch die obere Schicht des Grabes. In der Nähe des Kopfendes fand er noch etwas anderes, nämlich einen etwa zwölf Zentimeter langen Splitter. Das war das fehlende Teil des seltsamen Briefes aus Holz; es enthielt eine einzelne Zeile der dem Sanskrit ähnelnden Schrift. Was stand dort? War es eine Grabschrift? Konnte der Mörder den fremdartigen Text lesen? Hatte diese Botschaft den Tod des Jungen verursacht? Shan legte den Splitter und den primitiven Vogel vor sich hin. Hatte ein und dieselbe Person die beiden Gegenstände vergraben? Vielleicht waren sie lediglich als Opfergaben oder Mahnzeichen gedacht. Hingen sie miteinander zusammen?
Gedankenverloren nahm Shan die Funde eine Weile in Augenschein, hob dann zwei kleine Löcher aus und legte Vogel und Splitter ehrfürchtig zurück in das Grab.
Erneut zirpte die Grille. Grillen waren eigentlich als Glücksbringer bekannt. Khitai jedoch hatten sie kein Glück gebracht. Und dem Clan des Roten Steins auch nicht.
Shan stand auf und fing an, die sich verdunkelnde Einfriedung abzuschreiten. Diesmal bemühte er sich, sie nicht als Grabstätte, sondern als Schauplatz eines Mordes zu betrachten. Bajys könnte sich dem Ort auf dem Pfad vom Lager genähert haben. Vielleicht war er aber auch dem Verlauf des Hügelkamms gefolgt und dann über die Felsen geklettert. Er war gegen Ende des Tages gekommen, jenes Tages, an dem Khitai mit Alta gespielt hatte, dem Jungen in Begleitung der dropkas . Es war ein Schuß gefallen, aber niemand hatte eine Waffe gehört.
Shan erkannte, daß die Böen, die über die Felsen brausten, ein entsprechendes Geräusch durchaus verschlucken könnten. Er blieb stehen, um dem leisen Stöhnen des Windes zu lauschen, als plötzlich etwas Schwarzes und Eisiges in ihm aufstieg. Manchmal kam sie einfach über ihn, eine dunkle Kälte tief in seinem Innern, und immer wenn es soweit war, mußte Shan sich ihr entgegenstemmen und sie aufhalten. Mitunter ließ ihn dieses Gefühl regelrecht erzittern. Bei anderen Gelegenheiten manifestierte es sich in einem glühendheißen Punkt auf seinem Arm, genau an der Stelle, an der seine lao gai Nummer eintätowiert war, oder auch entlang seiner Wirbelsäule, wo die Kriecher ihn mit Viehtreibern malträtiert hatten. Es war schwarz und formlos, und er hatte keinen Namen dafür. Es war weder Angst noch Haß, sondern einfach nur das Ding, das aufgrund der Jahre im Gulag in ihm fortlebte, vor allem als Folge der ersten paar Wochen, die in seiner Erinnerung zu einem amorphen Gemenge aus Schmerzen und ihn anschreienden Männern verschwammen. Er schloß die Augen und dachte an sein erstes Zusammentreffen mit einem der Lamas zurück. Ein Wachposten hatte Shan umgestoßen und prügelte auf ihn ein. Der alte Tibeter hob Shans Gesicht aus dem Schlamm und rettete ihn so vor dem Erstickungstod. Dann beugte der Lama sich über Shans Körper und fing die Stockschläge des tobenden Soldaten mit dem eigenen Rücken ab, ohne dabei sein heiteres Lächeln zu verlieren.
Bei diesem Gedanken verblaßte das Gefühl der Schwäche. Shan stützte sich kurz an den Felsen ab, um seine Kräfte zu sammeln, und setzte dann die Untersuchung des Tatorts fort.
An der hinteren Wand lehnte eine dicke Steinplatte, die irgendwann von oben herabgestürzt war und nun einen kleinen geschützten Alkoven bildete. Shan trat in den Schatten des Felsens und riß ein Streichholz an. Auf dem Boden lag, teilweise von Sand bedeckt, ein weißer zylindrischer Gegenstand. Shan hob ihn auf und stellte fest, daß es sich um eine Kerze handelte. Kurz bevor das Streichholz verlosch, entzündete er den Docht.
Da in der Nische absolute Windstille herrschte, konnte man den flachen Vertiefungen des sandigen Bodens noch immer entnehmen, daß dort zwei Leute gesessen hatten. Vor ihnen, auf der flachen Rückwand, war mit Kreide ein Kreis von knapp fünfzig Zentimetern Durchmesser aufgemalt worden. Nur ein Kreis.
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