Das Auge von Tibet
jung beendeten Lebens sehen, sondern stets die Überreste einer jungen Seele, die Symbole für den Geist des Kindes und die Anzeichen für Khitais inneren Gott. Lokesh schien Shan nicht länger wahrzunehmen. Der alte Tibeter starrte auf die Jadekugel und beugte sich langsam vor, als würde sie ihm ein Zeichen geben. Shan hob sie auf und streckte sie Lokesh entgegen. Sie befanden sich im Land der Jade. Chinas Vorräte an diesem Schmuckstein stammten seit jeher aus den Turkkönigreichen nördlich des Kunlun. Und vorhin hatte der Uigure die Anklägerin als Jadehure bezeichnet.
Plötzlich bemerkte Shan, daß die Kugel mit feinen Schnitzereien in Form winziger Lotusblumen verziert war und in der Mitte ein Loch aufwies. Eine Perle von einer Gebetskette. Er ließ sie in die offene Hand des Tibeters fallen.
»Was ist los, alter Freund?« fragte Shan. »Wer war der Junge? Hast du Khitai gekannt?«
Lokesh seufzte. »Nicht diesen Jungen«, sagte er, als gäbe es mehrere Khitais, und sah dann die Perle an, während eine einzelne Träne über seine Wange rollte.
Erst kurz vor Einbruch der Dämmerung gelang es Shan, noch einmal das Grab des Jungen aufzusuchen. Lokesh blieb in Jaklis Obhut zurück. Der alte Mann schien in eine seltsame Trance gefallen zu sein und hatte mehr als eine Stunde lang die Jadeperle angestarrt. In der Zwischenzeit war die wild blickende Frau wieder aufgetaucht und hatte sich schweigend und mit verdrießlicher Miene neben Lokesh gesetzt. Als Shan das Zelt verließ, tätschelte die Frau dem Tibeter wie einem kranken Kind den Rücken und summte eines ihrer Wiegenlieder, während Jakli versuchte, ihn mit ein wenig Buchweizengrütze zu füttern.
Soeben streiften die letzten Sonnenstrahlen den hinteren Teil der Einfriedung und tauchten das Grab in ein unheimliches rosafarbenes Licht. Hier, im Schutz der Felsen, war es vollkommen windstill. Eine einsame Grille zirpte.
Shan ließ sich neben dem kleinen Grab auf die Knie fallen. Er legte beide Handflächen auf die lockere Erde und strich dann darüber, bis ihm plötzlich bewußt wurde, daß er das Verhalten der umnachteten Frau nachahmte und sich wie ein Vater verhielt, der die Bettdecke seines schlafenden Kindes glättete.
Seinen eigenen Sohn hatte er schon seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Mit jähem Schmerz erkannte er, daß er nicht einmal wußte, ob der Junge noch am Leben war. Bislang hatte er noch nie daran gedacht, sein Sohn könnte eventuell gestorben sein. Doch die irrsinnige Gewalt, von der sein Land seit Jahren heimgesucht wurde, machte keinen Unterschied zwischen alt und jung. Kinder starben für die Sünden ihrer Eltern, manchmal schnell, manchmal den quälend langwierigen Seelentod der Alleingelassenen. Nein, das war inzwischen Geschichte, wandte eine Stimme in seinem Kopf ein. Sein Sohn stand unter dem Schutz der Mutter, einer hohen Parteifunktionärin. Dann blickte Shan wieder auf das Grab unter einen Händen. Khitai hatte bestimmt auch geglaubt, beim Clan des Roten Steins in Sicherheit zu sein. Auch heute noch starben Kinder.
War er vielleicht genau deswegen hier? fragte Shan sich. Hatten die alten Lamas an Laus Tod eine historische Komponente wahrgenommen, die auf eine neuerliche Woge der Zerstörung hindeutete? War abermals ein Dämon der Unterdrückung entfesselt worden?
Geistesabwesend nahm er etwas lose Erde von dem Grab, ließ sie langsam wieder herabrieseln und klopfte sie fest. Wodurch war dieser entwurzelte Kasachenjunge für Bajys auf einmal so gefährlich geworden? Hatte er tatsächlich gedroht, Bajys' Verrat an den Clans und damit die Enttarnung Fat Maos zu verhindern? Hatte er etwas gestohlen? War dies eine Bestrafung? Ein aufgeweckter Junge würde während der Aufenthalte in den verschiedenen Clanlagern bestimmt so manches mitbekommen. Womöglich geriet er durch irgend etwas in Versuchung, das wiederum auch für Bajys von Interesse war. Was konnte das sein? Die kargen Habseligkeiten der verarmten Nomaden? Und was konnte er haben, das nicht auch Bajys zur Verfügung gestanden hätte? Beide Jungen, rief Shan sich ins Gedächtnis. Alta und Khitai hatten zusammen gespielt und waren dann im Abstand von zwei Tagen getötet worden. Der eine verprügelt und erschossen, der andere verprügelt und von einer Klinge durchbohrt. Vielleicht hatten die Jungen etwas gewußt, hatten eine für ihren Mörder dermaßen gefährliche Entdeckung gemacht, daß dieser sie nicht am Leben lassen konnte. Immerhin lebten sie in einem Land voller
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