Das Auge von Tibet
Vielleicht ein simples Zeichenspiel für Kinder. Shan mußte an einige andere Kreise denken, die er auf so manchen Wänden gesehen hatte, zumeist in den Gefängnisbaracken. Dort sollten sie ein Mandala symbolisieren, an dessen Anfang immer ein Kreis stand, damit der Geist des Betrachters sich der inneren Ausdehnung und Leere bewußt wurde. Bisweilen diente ein solcher Kreis auch als Fokus für Meditationsübungen. Doch das galt für Tibet, nicht für ein kasachisches Nomadenlager.
Shan hielt die Kerze höher und entdeckte auf der benachbarten Wand eine weitere Zeichnung. Zwei horizontale Linien, die im rechten Winkel von zwei vertikalen Linien durchschnitten wurden, mit zwei Kreuzen und zwei kleinen Kreisen in vier der so entstandenen Felder. Ein aus dem Westen stammendes Zeichenspiel, das auch Shan als Kind mit seinem Vater gespielt hatte. Er schaute zurück zu dem Kreis. Bestimmt handelte es sich ebenfalls um den Bestandteil eines Spiels. Vielleicht hatten die Jungen einfach nur mit Steinchen nach diesem Ziel geworfen. Shan konzentrierte sich wieder auf die Linien. Das Spiel war unterbrochen worden. Er erschauderte, denn plötzlich sah er vor seinem inneren Auge Khitai bei diesem unschuldigen Zeitvertreib sitzen, bis jemand den Jungen packte, um ihn zu ermorden. War Alta Zeuge des Vorfalls geworden und allein in dem Alkoven zurückgeblieben? Oder hatte der Täter womöglich selbst hier mit Khitai gespielt? Einem herzlosen Kindesmörder war alles mögliche zuzutrauen, auch ein dermaßen hinterhältiges Täuschungsmanöver. Welcher ist es bloß gewesen? hätte Lokesh gefragt. Welchem Dämon war Bajys erlegen? Hariti, hatte die Antwort des dropka gelautet. Die Kinderfresserin.
Als Shan in der grauen Abenddämmerung vom Hügel herabkam, saß Malik an einem kleinen Feuer in der Nähe der Ställe. An seiner Seite lag der große Mastiff. Der Junge blickte zum Himmel empor und schien gar nicht zu bemerken, daß Shan neben ihm Platz nahm.
Das Firmament war klar und weit und wurde von einem leuchtendhellen Halbmond dominiert. In der Ferne heulte ein Tier. Auf der anderen Seite des Feuers sah Shan einen großen Pflock im Boden stecken, von dem aus ein straff gespanntes Seil in die Dunkelheit verlief. Man hatte mehrere junge Pferde daran angebunden.
Nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis hatten die alten Lamas ihm geheime Orte der Meditation gezeigt, an denen Shan sodann viele Nächte unter dem Sternenzelt verbrachte. Manchmal hatte einer der Mönche, für gewöhnlich Gendun, ihm dabei Gesellschaft geleistet und versucht, wie Shan später begriff, den Schmerz aus seiner Seele zu ziehen. Gemeinsam waren sie Jahr für Jahr, Monat für Monat seines Lebens durchgegangen, und während er erzählte, hatte vor ihm eine alte Urne aus gebranntem Ton gestanden, die mit einer einfachen Strichzeichnung des Mitfühlenden Buddhas versehen war.
»Jetzt ist der Topf voll«, hatte Gendun gesagt, nachdem sie geendet hatten, und hatte das Gefäß mit einem Deckel versehen. Dann hatte er Shan einen großen Stein sowie eine der kleinen melodischen Tempelglocken gegeben und ihn ohne weitere Erklärung allein unter den Sternen zurückgelassen.
Shan hatte zu jenem Zeitpunkt auf einem offenen Felsvorsprung gesessen, der so hoch oben im Gebirge lag, daß der Himmel sich beinahe genauso weit unter wie über ihm erstreckte. Als er versucht hatte, die Urne anzuheben, war sie ihm unbeschreiblich schwer erschienen. Nach mehreren Stunden, inmitten finsterster Nacht, hatte Shan die Urne schließlich mit dem Stein zerschmettert, die Glocke genommen und sie bis zum Sonnenaufgang geläutet. Ihr Klang war hell wie ein strahlend schöner, vibrierender Kristall.
Nun tastete Shan nach der kleinen Scherbe der Urne, die er noch immer bei sich trug. Einige Tage nach dem Vorfall war er zurückgekehrt, um sie zu holen, denn es gab ein bestimmtes Stück seines bisherigen Daseins, das er einfach nicht zurücklassen konnte: seinen Sohn.
Malik streckte den Arm aus und stieß sanft Shans Bein an. Die Berührung kam dermaßen unerwartet, daß Shan zusammenzuckte. »Glauben Sie, er ist jetzt dort?« fragte der Junge leise. »Als letztes Jahr ein Baby starb, hat mein Onkel gesagt, es würde nun in einem wunderschönen Tal auf dem Mond wohnen.«
Shan blickte ebenfalls zum Mond empor. Es tat ihm in der Seele weh, daß der Junge bereits so sehr mit dem Tod vertraut war. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Vielleicht. Der Anblick ist herrlich.«
»Der Mond ist so
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