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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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- damit könnte die Provinzzentrale in Urumchi gemeint sein«, sagte Jakli und bezog sich damit auf die tausend Kilometer nordöstlich gelegene Hauptstadt Xinjiangs. »Oder auch Peking.« Sie sah sich mit großen Augen um, als wäre ihr ein Gespenst erschienen. In beiden Fällen bedeutete dies, daß jemand von ganz oben sich für den Bezirk Yutian interessierte. Jakli wollte anscheinend aufstehen, schien dann aber alle Kraft zu verlieren. Sie ließ sich zurücksinken und fixierte den Computer.
    Shan sprang plötzlich auf. Etwas schnürte seine Brust ein. Er ging nach draußen und atmete in der kühlen Luft tief durch. Die Öffentliche Sicherheit aus Peking hatte ihn ins Gulag geschickt. Bislang war er davon ausgegangen, daß Gendun schlimmstenfalls in die Hände der örtlichen Kriecher geraten würde. Die Kriecher aus dem Hauptquartier verfügten hingegen über Universitätsabschlüsse und hohe Parteiränge. Ihre Einsatzkommandos bestanden aus Elitesoldaten und wurden stets von einem Politoffizier geleitet. Diese Leute würden Gendun mit anderen Augen betrachten. Er wäre eine Art Experiment. Vielleicht beschloß man, sich seiner zu bedienen, nachdem man seinen Willen durch Techniken gebrochen hatte, denen nicht einmal der ausgeglichenste Verstand zu widerstehen vermochte. Sie hatten dergleichen zuvor schon häufiger getan. Sogar der Pantschen Lama, der höchste aller wiedergeborenen Lamas nach dem Dalai Lama, war von ihnen für zehn Jahre in ein Hochsicherheitsgefängnis in der Nähe von Peking gesperrt worden, nachdem er sich für die tibetische Unabhängigkeit ausgesprochen hatte. Als er wieder zum Vorschein kam, war er ein völlig anderer Mann und mit einer Han-Chinesin verheiratet.
    Shan ging zu dem Zelt bei den Ställen. Dort sah er neben seiner Tasche Malik knien und soeben die Schlafstelle glattstreichen, die aus drei aufeinanderliegenden Teppichen bestand. Lokesh saß mit übergeschlagenen Beinen auf einem ähnlichen Ruhelager. Vor ihm lag ein kleiner roter Läufer, ein moslemischer Gebetsteppich, auf dem einige Gegenstände angeordnet waren. Der alte Tibeter hatte eine Hand vor die Brust gehoben und hielt einen Bleistiftstummel. Seine Augen waren geschlossen.
    Mit dem Fuß stieß Shan versehentlich gegen eine Blechdose, die am Rand des roten Teppichs stand und kleine Glasstücke enthielt. Sie kippte um und ließ dabei ein helles Klingeln ertönen, wodurch Lokesh aus seiner Trance gerissen wurde.
    »Er hatte nicht viel«, stellte der alte Tibeter seufzend fest und wies auf die Gegenstände vor ihm.
    »Sind das die Besitztümer des Jungen?« fragte Shan.
    Lokesh nickte und starrte die Sachen neugierig an. Die Blechdose mit dem Glasspielzeug. Drei Bleistiftstummel. Ein kleines, lautenähnliches Instrument mit nur zwei Saiten. Geflochtene Lederriemen, die aussahen, als habe man sie mehrfach auseinandergewickelt und neu geflochten, womöglich zu Übungszwecken. Eine einzelne Jadekugel vom Durchmesser einer großen Murmel. Fünf trockene, morsche Holzstücke mit schwarzen Markierungen, die wie Schriftzeichen aussahen. Die Schätze eines kleinen Jungen.
    Malik nahm die Laute und zupfte selbstvergessen eine Saite. »Eine dombra «, sagte er traurig. »Zur Begleitung der alten Clanlieder.«
    Shan kniete sich hin und nahm eines der Holzstücke.
    »Die haben wir an jenem Tag gefunden«, sagte Malik und blickte verwirrt zu den Hölzern. »Es war zerbrochen, und die Teile lagen um seine Leiche verstreut.«
    Was war zerbrochen, hätte Shan beinahe gefragt, aber dann setzte er die Stücke zusammen und entdeckte kurz darauf, daß das Objekt aus zwei Teilen bestand, einem flachen, offenen Rahmen und einem keilförmigen Einschub. Auf der Oberseite des Einschubs standen zwei Zeilen kleiner fließender Buchstaben, die wie Sanskrit aussahen, eine inzwischen fast ausgestorbene Sprache der südlich von Tibet gelegenen Länder. Zog man den Einschub heraus, erschien darunter auf der flachen Oberfläche des Rahmens, in deren Mitte allerdings ein großer Splitter fehlte, ein Text in derselben Schrift. Wie ein Brief, auf dem außen die Adresse vermerkt war, dachte Shan.
    Als er aufblickte, sah er Lokesh noch immer eindringlich den Rest der Sammlung mustern. Wie ein Ermittler, dachte Shan. Nein, nicht ganz, verbesserte er sich, als Lokesh langsam die Hand ausstreckte und mit den Fingerspitzen über jeden der Gegenstände strich. Der alte Buddhist würde in diesen Dingen niemals die klägliche materielle Hinterlassenschaft eines viel zu

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