Das Auge von Tibet
weiß«, flüsterte Malik. »Das muß die Farbe des Sandes dort sein.« Er schwieg für einen Moment und stellte dann noch eine Frage. »Woher sollen sie denn da wohl Wasser bekommen?«
»Möglicherweise braucht man dort kein Wasser«, schlug Shan vor.
Die Bemerkung schien den Jungen zu verwirren. Er sah ins Feuer. »Wasser ist Leben«, sagte er und klang dabei sehr weise. »Ob man so wohl bemerkt, daß man tot ist? Weil man keinen Durst mehr hat?« Als Shan nichts darauf erwiderte, beugte Malik sich langsam vor und nahm etwas, das zu seinen Füßen lag. Ein Messer. Und ein schmales Stück Holz, das sich am Ende zu einem Oval verbreiterte. Langsam schälte er einige Splitter herunter und warf sie in die Glut, wo sie sich in der Hitze zunächst zusammenrollten, um dann in einer schnellen heißen Flamme aufzulodern.
»Ein Löffel«, erklärte Malik. »Als Geschenk für Jakli und.« Er hielt inne. »Ein Geschenk, wegen des Reiterfests.«
Shan verfolgte, wie er das Holz mit geübter Hand bearbeitete. »Ich habe den Vogel gesehen, den du ihm geschenkt hast«, sagte er leise.
Der Junge schien nicht überrascht zu sein. »Letztes Jahr, nach dem Tod des Babys, hat meine Mutter mich gebeten, einen Vogel zu schnitzen. Um das Kind auf dem rechten Weg durch den Himmel zu geleiten, hat sie gesagt. Diesmal hat mich zwar niemand darum gebeten, aber.« Malik zuckte die Achseln. »Die Kinder der zheli sind jünger als ich. Ich fand es traurig, daß sie ihr ganzes Leben lang nur laufen mußten. Khitai hatte weder einen ashamai-Sattel noch ein sundet-Pferd.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Diese Waisen haben niemals ein richtiges Zuhause. Khitai hat erzählt, als er noch klein war, hätten die Leute ihn zu seinem Schutz immerzu weitergereicht. Manchmal war er in den Bergen, manchmal in einer Stadt. Ein ganzes Jahr lang hat er in einer Höhle gelebt. Bei Bajys und Lau hat es ihm dann besser gefallen, aber da er auf diese Weise aufgewachsen ist, konnte er nie die alten Traditionen der Kasachen kennenlernen. Es tat mir leid, daß er keinen Sattel besaß.« Malik verstummte und warf Shan einen kurzen Blick zu. »Sobald ein Junge fünf Jahre alt ist, darf er allein reiten«, erklärte er dann, »und bekommt einen besonderen weichen Sattel, einen ashamai-Sattel, der mit Federn und roter Farbe verziert ist. Später, wenn ein Mullah verkündet, er sei nun bereit, den Weg ins Mannesalter einzuschlagen, werden Zeremonien und ein Fest abgehalten, und er erhält ein sundet-Pferd, sein erstes Pferd. Aber Khitai hatte nichts dergleichen. Weder einen Sattel noch ein Pferd. Er hat gesagt, das sei schon in Ordnung, denn er würde alle Tiere lieben und viel von ihnen lernen. Einmal ist er auf einen Baum geklettert, um Nestlinge zu beobachten. Und er ist Schmetterlingen hinterhergelaufen.«
»Seid ihr gute Freunde gewesen?«
»Wir kannten uns noch nicht lange und haben nur zwei- oder dreimal pro Woche Zeit miteinander verbracht. Manchmal hat er mir abends dabei geholfen, die zheli zu spannen«, sagte der Junge und deutete in Richtung der angeleinten Pferde. »Meistens war er mit Bajys zusammen, um auf den Hochweiden unsere Schafe zu hüten. Oder die beiden sind zu ihrem gemeinsamen Fleckchen oberhalb des Lagers gegangen.«
»Was haben sie dort gemacht?«
»Hauptsächlich geredet. Ich glaube, Bajys wollte Khitai soviel wie möglich von ihrem alten Clan erzählen, damit wenigstens die Erinnerungen überleben würden.«
»Weshalb sollten die beiden sich deswegen von allen anderen im Lager zurückziehen?«
»Clans haben Geheimnisse. Manche Erinnerungen dürfen im Beisein von Fremden nicht zur Sprache kommen.«
Shan beugte sich vor und schob einen Zweig ins Feuer. »Du und Khitai, was habt ihr zusammen gemacht?«
»Manchmal sind wir in den Pferch der Lämmer gestiegen und haben gelacht, weil die kleinen Tiere immer an unseren Fingern nuckeln wollten. Manchmal sind wir auch durch die Gegend gelaufen und haben uns vorgestellt, wir würden Abenteuer erleben.«
»Was denn zum Beispiel?«
»Auf Soldaten schießen und so.«
Diese Worte ließen Shan zurück zu der Jurte blicken, in der Jowa und Fat Mao noch immer zusammen an dem Computer saßen. »Kommt Fat Mao häufig her?«
»Nein, nicht so oft. Er ist auch ein Soldat«, sagte Malik, als würde er den Grund für Shans Frage kennen. »Ein ganz besonderer. Lung ma«, flüsterte er ehrfürchtig.
»Lung ma?« Es war ein alter Begriff aus der Zeit der frühen Rechtsprechung des Landes. Übersetzt
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