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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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hieß es Pferdedrache und bezeichnete eine mythische Kreatur, halb Pferd, halb Drache, die das einfache Volk vor Unrecht beschützte.
    »Ja, genau. So wie Ihr tibetischer Soldat.«
    Wie Jowa. Die lung ma, erkannte Shan, war das Gegenstück zu den purbas .
    »Die Männer der lung ma nennen sich alle Mao. Wie zum Scherz. Sie wissen schon, dieser Mao, jener Mao. Es sei zu gefährlich, den richtigen Namen zu benutzen, hat er mal zu mir gesagt. Hin und wieder sorgen sie dafür, daß bei den Behörden etwas passiert«, verkündete Malik und nickte wissend.
    »Hat Khitai über diese Leute Bescheid gewußt?«
    »Nein. Das alles ist geheim. Ich mußte es Fat Mao versprechen. Er sagt, wenn ich das Geheimnis bewahren kann, darf ich vielleicht eines Tages zu ihnen gehören.«
    Die Worte des Jungen machten Shan irgendwie traurig. Wußte Lau von der lung ma, hätte er beinahe gefragt, kam jedoch im gleichen Moment von selbst auf die Antwort. Fat Mao hatte den purbas die Botschaft von ihrem Tod übersandt.
    Falls Lau zur lung ma gehört hatte, war das eventuell der Grund für ihre Ermordung gewesen. Die Hauptaufgabe der Einsatzkommandos bestand in der Niederschlagung jeglichen Widerstands, und nirgendwo in China wurde so erbittert Widerstand geleistet wie in Xinjiang.
    »Hast du Lau gekannt?« fragte er.
    »Na klar. Sie hat uns ab und zu Medizin für die Tiere gebracht.«
    »Weißt du, daß sie tot ist?«
    »Erst seit gestern. Bis dahin wurde es geheimgehalten.«
    »Glaubst du, man hat sie wegen ihres Engagements für die Waisenkinder ermordet?«
    Malik dachte lange nach. Als er schließlich antwortete, war sein Blick auf die jungen Pferde gerichtet. »Sie hat für die Kinder auch nichts anderes gemacht als ich für unsere zheli «, sagte er und klang dabei verängstigt. Beruhigend und im Rhythmus eines Liedes redete er in seiner Muttersprache auf die Pferde ein. Dann wandte er sich mit qualvoller Miene plötzlich wieder zu Shan um. »Falls man uns in die Stadt bringt, werden wir vergessen, wer wir sind. Wir werden keine Pferde mehr haben, keine Zelte und vielleicht nicht einmal mehr Hunde.« Er hielt für geraume Zeit inne. »Und was ist, wenn ich alt bin? Es wird keinen Clan mehr geben. Für mich wird nach meinem Tod niemand einen Vogel schnitzen.«
    Shan nahm tröstend die Hand des Jungen. »Du bist stark. Ein starker Geist wird immer seinen Weg finden.«
    Schweigend saßen sie da. Wie lange war es her, daß er zum letztenmal mit seinem eigenen Sohn so geredet hatte? Viele Jahre. Nein, so hatten sie eigentlich nie miteinander geredet. Shans Frau, die pflichtbewußte Parteifunktionärin, hatte ihren gemeinsamen Sohn viele hundert Kilometer entfernt von Shan aufgezogen und den Jungen stets mißtrauisch im Auge behalten, wenn der Vater zu Besuch kam. Shan hatte sich immer wieder eingeredet, das Verhältnis zu seinem Sohn würde eines Tages besser und enger sein, aber auch das war nur eine der vielen Lügen gewesen, mit denen er sich während seiner Pekinger Inkarnation am Leben erhalten hatte.
    Am Himmel blitzte eine Sternschnuppe auf und sauste in Richtung des Mondes. Womöglich ein weiteres Kind auf dem Weg in das wunderschöne weiße Tal.
    »Hast du mit Khitai dieses Zeichenspiel am Felsen gespielt?«
    »Ja, einige Male sogar. Er kannte Spiele, von denen ich noch nie etwas gehört hatte. Aber nicht an jenem letzten Tag. In einem Gehölz, etwa drei Kilometer von hier, war ein Herbstlamm geboren worden. Es ist meine Aufgabe, die Jungen im Auge zu behalten, damit sie nicht sterben. Ich mußte den ganzen Tag bei dem Lamm bleiben. Erst dann konnte ich sicher sein, daß es den Geruch seiner Mutter erkannt hatte und stark genug war, um bei den anderen Lämmern untergebracht zu werden.«
    »Du bist erst abends zurückgekommen?«
    »Ja, bei Einbruch der Dunkelheit. Ich wollte zu Khitais Lieblingsplatz, um nach ihm zu sehen, aber einer der jungen Widder hatte sich in einer Ranke verfangen und am Bein verletzt, also mußte ich mich zuerst um das Tier kümmern. Es schrie ganz jämmerlich. Ich habe zu ihm gesprochen. Khoshakhan, koshakhan, so wie man mit den Lämmern sprechen muß. Es ist ein altes Wort, fast wie eine Zauberformel. Auf diese Weise wissen die Tiere, daß man sie liebt«, sagte der Junge mit der Stimme eines alten Mannes. Er seufzte. »Es war dunkel. Ich blieb lange auf, um den Tieren zu erklären, warum wir sie bald verlassen müssen. Die Brigade wird sich gut um die Schafe kümmern, habe ich gesagt. Was sollte ich sonst

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