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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Verbindung, die Jakli offenbar entgangen war. Der Wasserhüter wurde vom Landwirtschaftsrat eingestellt. Und genau diesem Rat hatte Lau jahrelang angehört.
    Shan wölbte vorsichtig die Hände, so daß Fingerspitzen und Daumen sich berührten, genau wie er es in Lhadrung gelernt hatte.
    Der Blick des Wasserhüters glitt abermals über ihn hinweg, als wäre Shan gar nicht da. Inzwischen waren die für die Küche bestimmten Reissäcke abgeladen. Die Männer versammelten sich am Fuß der Treppe und sahen die Lautsprecher an, als rechneten sie mit neuen Anweisungen.
    Shan rührte sich nicht. Er sah dem Wasserhüter genau in die Augen.
    Schließlich bemerkte der Mann Shans Hände. Sein Kopf erzitterte kurz, als würde sein Verstand erstaunt blinzeln. Shan begriff sofort, was in ihm vorging. Der Mann sah, was Shan geformt hatte, das mudra des Schatzkästchens, das Zeichen des heiligen Gefäßes. Er erkannte es und wußte, daß Shan seine Reaktion im selben Moment richtig deutete.
    Die Lider des Mannes zuckten hoch. Seine Augen blieben reglos, aber er hob gemächlich den Kopf, bis er Shan ins Gesicht sah.
    »Ich bin in deiner Höhle gewesen, Rinpoche«, flüsterte Shan auf tibetisch. »Ich werde dir helfen. Ich werde den Kindern helfen.«
    Der Wasserhüter erwiderte zunächst nichts, sondern nahm nach kurzem Zögern Shans Hände und drückte sie langsam, aber fest. »Auch wenn du denjenigen findest, kannst du es nicht zurücknehmen.« Die tibetischen Worte kamen dermaßen unvermutet und in einem solch leisen Flüsterton, daß Shan beinahe an eine Einbildung geglaubt hätte. Aber die leuchten Augen des Mannes weiteten sich, und sein Mund bewegte sich erneut. »Du kannst es nur weiterführen«, sagte er heiser und wandte dabei den Kopf in Richtung der Berge und damit in Richtung Tibet.
    Shan mußte plötzlich an Bajys' Worte denken. Das war derjenige, den ich geliebt habe, hatte er über Khitai gesagt, als gäbe es viele Khitais. Das war derjenige, den ich beschützen sollte. Bajys hatte nicht begriffen oder nicht begreifen wollen, daß Khitai noch am Leben war. Sein Vertrauen war enttäuscht worden, so daß er zerbrach und wimmernd, ja regelrecht fiebernd zu Lau fliehen wollte. Jemand hatte ein bedeutsames Geheimnis enthüllt, Bajys' Geheimnis, und dadurch das Ende von Bajys' Welt heraufbeschworen. Und nun sprach der Lehrer, der alte Lama, den alle nur als Wasserhüter kannten, in ebensolchen Rätseln. Vielleicht hatte Bajys ja gar nicht einen Jungen, sondern einen Gegenstand gemeint. Du kannst es nicht zurücknehmen. Du kannst es nur weiterführen.
    Auf einmal erwachte dröhnend der Motor des Lastwagens zum Leben. Der alte Mann stand auf, und sein Blick wirkte nun wieder genauso schläfrig und stumpfsinnig wie zuvor. Als er zum Speisesaal ging, stolperte er fast über die eigenen Füße. Die Häftlinge an der Tür lachten ihn aus.
    Im selben Moment ertönte die blecherne Stimme aus den Lautsprechern. Die Männer vor dem Speisesaal zogen ihre Gewänder zurecht und reihten sich dann in die Schar der Gefangenen ein, die auf den Platz strömte. Nun würden auch sie die Segnung der politischen Priester empfangen.
    Kurz darauf lenkte Fat Mao den Lastwagen durch das innere Tor. Aber als sie das Lager Volksruhm verlassen wollten, mußten sie feststellen, daß man das Haupttor inzwischen mit Kette und Vorhängeschloß versperrt hatte. Ein Wachposten war nirgendwo zu entdecken. Nervös warteten sie zehn Minuten ab. Dann fuhr Fat Mao im Schrittempo zum Verwaltungsgebäude zurück. Jemand kam nach draußen, kein Wachposten, sondern einer der chinesischen Büroangestellten. Der Mann trug ein weißes Hemd mit abgenutzten Manschetten.
    »Man hat Ihnen eindeutige Anweisungen erteilt«, rief er mit schriller Stimme. »Der Rest der Fracht wird erst morgen abgeladen.«
    »Dann kommen wir morgen eben noch einmal«, sagte Fat Mao. »Schon bei Tagesanbruch, wenn Sie möchten.«
    Der Mann grinste spöttisch und holte ein Stück Papier aus der Hemdtasche. »Uns steht eine Lieferung pro Woche zu«, kreischte er. »Und Sie werden auch nur für eine Lieferung pro Woche bezahlt. Bei der Küche hat man Ihnen durch Unterschrift den Erhalt der gesamten Ware bestätigt.« Er fuchtelte mit dem Zettel vor Fat Maos Gesicht herum. »Glauben Sie etwa, Sie könnten morgen wiederkommen, um auf diese Weise für zwei Lieferungen bezahlt zu werden? Vergessen Sie's.«
    »Machen Sie sich nicht lächerlich. Wir werden nur für die tatsächlich gelieferte Ware

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