Das Auge von Tibet
Hu. »Ich bin kein Zeuge. Lau gehörte nicht zu unserem Kollegium. Wir waren nicht offiziell verantwortlich für sie. Ursprünglich hat sie mal ein kleines Gehalt bekommen, aber das liegt schon einige Jahre zurück. Wir haben ihr lediglich ein Büro zur Verfügung gestellt und ihr unsere Stundenpläne mitgeteilt, damit sie sich danach richten konnte. Außerdem durfte sie gelegentlich unsere Fahrer in Anspruch nehmen.«
»Demnach haben Sie bereits mit Xu gesprochen?«
»Heute morgen. Sie sagte, ich solle noch mal darüber nachdenken, ob ich auch wirklich nichts wüßte. Immerhin sei es nicht einfach, in Yutian eine gute Stelle zu finden. Sie hat in meine Akte gesehen und mich daran erinnert, daß ich Familienvater bin. Ich sagte, es gäbe keine Geheimnisse um Lau. Die Frau war ein offenes Buch. Womöglich zu offen. Das ist wahrscheinlich die ganze Erklärung: Sie ist irgendwem zu sehr auf die Füße getreten. Manche der Nomaden geraten leicht in Wut, und einige leben im Geiste noch immer im Zeitalter der Khane, als es noch Blutfehden gab.« Er sah sich auf dem Gelände um. »Ich habe angeboten, während meines Aufenthalts hier selbst Unterricht zu erteilen«, verkündete er, als hege er den Verdacht, Shan könne ein Politoffizier sein.
Shans Interesse schwand. Ihm war schnell klargeworden, daß ein Mann wie Genosse Hu bestimmt nicht zu Laus engeren Freunden gehört hatte.
Er spürte, daß Wangtu richtig lag. Lau hatte große Menschenkenntnis besessen und sich möglichst in vertrauenswürdiger Gesellschaft aufgehalten. Aber was von ihr war bei diesen Leuten zurückgeblieben? Geheimnisse. Wenn man jemandem vertraut, gibt man Geheimnisse preis. Sie war nicht etwa zum Sterben an diesen Ort in der Wüste gereist, diesen Ort namens Karatschuk, sondern weil sie ein Geheimnis weitergeben wollte.
Er bemerkte einen anderen Mann, der im Schatten an der Wand des Speisesaals saß, hinaus auf den offenen Platz schaute und Shan und Jakli immer wieder verstohlene Blicke zuwarf. Der Fremde war fast kahl und hatte so wenig Fleisch auf den Knochen, daß seine Schädelform überdeutlich zutage trat.
Für einen Moment sah er Shan direkt in die Augen. Dann schienen seine Lider herabzusinken, und seine Finger berührten den Boden, als sei er plötzlich sehr müde geworden.
»Reine Zeitverschwendung«, sagte Jakli, als sie Shans Blick bemerkte. »Versuchen Sie ruhig Ihr Glück, aber er wird nur sinnloses Zeug von sich geben.«
Shan sah sie fragend an.
»Der Sibo«, erklärte sie beiläufig. »Der Wasserhüter.«
»Ich weiß es nicht. Alle nennen ihn immer nur den Wasserhüter. Meistens sabbert er und murmelt Blödsinn vor sich hin. Er beherrscht bloß die Sprache der Clans und den alten Sibo-Dialekt.«
Shan vergewisserte sich, daß Jakli weiterhin Hu in Beschlag nehmen würde. Dann näherte er sich dem Kahlköpfigen und ging vor dem Mann in die Hocke.
Der Wasserhüter ignorierte ihn weitgehend und rückte lediglich ein kleines Stück zur Seite, als würde Shan ihm die Sicht versperren. Shan trat erneut unmittelbar vor ihn und setzte sich. Keiner der beiden sagte etwas. Shan starrte den Wasserhüter an. Der Mann starrte über seine Schulter, als wäre Shan überhaupt nicht vorhanden. Er lutschte etwas, vielleicht eine Nußschale oder einen Kiesel. Aus seinem Mundwinkel rann ein dünner Speichelfaden.
Shan hatte seine Kindheit in der Mandschurei verbracht und dort einige Sibos kennengelernt. Der Mann vor ihm war kein Sibo. Und er war auch nicht Mitte Fünfzig, wie Jakli behauptet hatte, sondern älter, wahrscheinlich sogar bedeutend älter, wenngleich nur die triefenden Augen und die groben gelben Furchen seiner Fingernägel darauf hindeuteten. Der Mann sah in den Staub zu seinen Füßen und stieß ein Ächzen aus, ganz wie man es von einem alten Mann erwarten würde. Doch Shan glaubte nichts davon. Weder den geistesabwesenden matten Blick noch das scheinbar sinnlose Gemurmel.
Als er noch bei Jakli gestanden hatte, waren ihm zuerst die Finger des Mannes aufgefallen. Sie hingen nicht einfach herab, sondern waren sorgfältig plaziert. Die linke Hand ruhte im Schoß, während die Rechte auf dem rechten Knie lag. Die Handflächen zeigten nach innen, die Finger wiesen nach unten, und die Daumen waren leicht abgespreizt. Es war ein mudra ., das mudra der Erdberührung, mit dem die Landgottheit beschworen und als Zeuge angerufen wurde. Und zwischen den Fingern der rechten Hand steckte eine kleine getrocknete Blume.
Es gab eine
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