Das Auge von Tibet
Richtung. Die Tür des Lagerhauses war erwartungsgemäß abgeschlossen, aber als er die Klinke herunterdrückte, glaubte er eine Stimme zu hören.
»Wer ist da?« flüsterte Shan, erst auf tibetisch, dann auf mandarin.
Als vermeintliche Reaktion ertönte ein dumpfes Geräusch, aber ob es sich um ein Wort oder einfach nur um ein Stöhnen handelte, konnte Shan nicht erkennen.
Er durfte es nicht riskieren, Aufmerksamkeit zu erregen, also entfernte er sich schnell wieder von der Tür und ging um die Ecke des Lagerhauses, weil er hoffte, dort vielleicht ein Fenster vorzufinden. Es gab aber keines. Er wandte sich dem Heizungsgebäude und dem dahinter gelegenen Friedhof zu. Beim Schuppen und beim Verwaltungsgebäude blieb alles ruhig, und am Tor war kein Wachposten zu sehen. Vorsichtig näherte Shan sich der Hütte mit dem schlafenden Kriecher. Als er noch etwa zehn Meter entfernt war und bereits das tiefe Schnarchen des Mannes auf dem Stuhl hören konnte, bog er in Richtung Heizungsgebäude ab.
Aus dem Schornstein stieg eine dünne schwarze Rauchsäule empor und trieb auf die Berge zu. Bei dem angrenzenden Kohlenhaufen beluden sechs Männer überdimensionale Schubkarren, schoben sie dann durch die offene Vordertür des Gebäudes und kippten sie neben dem Heizkessel aus, wo ein weiterer Mann die Kohlen ins Feuer schaufelte.
Die Männer unterschieden sich von den anderen Gefangenen. Sie trugen nicht die einfache graue Tracht der Männer jenseits des inneren Zauns, und obgleich ihre Kleidung von Kohlenstaub überzogen war, traten die Farben ihrer Hemden und Westen noch immer deutlich genug hervor, um sie als Neuankömmlinge zu kennzeichnen. Womöglich gehörten sie ebenfalls zu Xus besonderen Häftlingen, überlegte Shan. Trotzdem wurden sie aus irgendeinem Grund anders behandelt. Wangtu und seinesgleichen hatte man leichte Tätigkeiten zugewiesen. Diese Leute hier mußten die schwerste Arbeit im Lager verrichten, als stünde ihnen ein schlimmes Schicksal bevor. Doch die Mienen der Männer schienen das genaue Gegenteil zu besagen. Sie wirkten nicht resigniert und ließen keine Spur der Verbitterung erkennen, die normalerweise auf dem Gesicht eines Menschen erschien, der einen Teil seines Lebens den Politoffizieren ausliefern mußte. Es waren rauhbeinige, muskulöse Männer, und keiner von ihnen war Han-Chinese. Anscheinend nahmen sie ihre Arbeit nicht allzu ernst, als könnte man sie jeden Moment davon entbinden oder sie gar wieder auf freien Fuß setzen. Falls sie sich dergleichen tatsächlich erhofften, dann zumindest nicht von Shan. Drei der Männer warfen ihm wütende Blicke zu und sahen wieder weg. Die anderen arbeiteten schweigend weiter und musterten ihn stirnrunzelnd. Shan dachte an die Computerdaten, die Fat Mao ihnen gezeigt hatte. Im Lager Volksruhm waren noch weitere Häftlingsnummern reserviert worden, und zwar für die Brigade und die Einsatzkommandos der Kriecher, deren Aufgabe darin bestand, Reaktionäre und Aufständische zu bekämpfen.
Shan trat in den Schatten des Vordachs und drehte sich um. Alles war unverändert. Die Limousine stand nach wie vor an ihrem Platz. Der Kriecher schlief immer noch. Shan sah sich im Gebäude um. Es enthielt lediglich den Heizkessel und einen damit betriebenen kleinen alten Generator, neben dem eine Werkbank mit diversen Werkzeugen stand. Außer dem Mann an der offenen Luke des Kessels befand sich niemand hier. Als der Arbeiter Shan bemerkte, hielt er inne und stützte sich auf seine Schaufel. Seine Silhouette hob sich vor den Flammen ab.
Shan nickte ihm unbeholfen zu und kam einen Schritt näher. Der Mann wischte sich den Ruß von der Stirn. Shan blieb verblüfft stehen. Die Haut des Fremden war weiß. Dann schob der Gefangene sich die dreckige Mütze in den Nacken, so daß eine lange blonde Haarsträhne sichtbar wurde. Auf seinem Gesicht flackerte so etwas wie Interesse auf, und er stieß mit dem Fuß die Kesselluke zu, um das Tosen der Feuerung zu dämpfen. Er trug schwere Wanderstiefel, wie sie in westlichen Ländern üblich waren.
»Hallo, Euer Exzellenz«, sagte er spöttisch. Er sprach Englisch mit amerikanischem Akzent. »Haben Sie mir Tee und Gebäck gebracht?«
Als Shan einen weiteren Schritt vortrat, schloß sich mit schmerzvollem Griff eine Hand um seinen Oberarm und riß ihn grob zurück, so daß er beinahe stürzte. Shan fuhr herum und blickte genau in das Gesicht des kräftigen Wachpostens der Öffentlichen Sicherheit, der eindeutig nicht mit guter Laune
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