Das Auge von Tibet
er in einem Dorf in der Nähe von Kashi unterrichtet, und dann hieß es auf einmal, er solle nicht mehr arbeiten, sondern in irgendein Altenheim für pensionierte Lehrer umziehen. Statt dessen hat er angefangen, bei den Clans inoffizielle Veranstaltungen abzuhalten, ist von Lager zu Lager geritten und wollte als Bezahlung nur Verpflegung und ein Bett für die Nacht. Schließlich hat ihn jemand gemeldet, weil er alte Geschichte lehrte.«
»Alte Geschichte?« fragte Shan.
»Sie wissen schon, vor 1949. Die Republik Ost-Turkistan, die Königreiche der Seidenstraße. Als dieses Land unabhängig war. Ich habe ihm gesagt, er solle aufhören. Er ist zu alt. Das hier ist schon seine dritte Schüssel.«
»Dritte Schüssel?« fragte Shan.
Wangtu warf Jakli einen überraschten Blick zu. »Seine dritte lao jiao Haftstrafe. Wer in dieses Lager kommt, erhält jedesmal einen Blechnapf, um sich daraus zu waschen, zu essen, zu trinken, alles.« Er sah zurück zu dem alten Mann auf der Treppe. »Falls man nach der dritten Schüssel erneut erwischt wird, landet man automatisch in einem Zwangsarbeitslager.«
Shan musterte den alten Lehrer. »Er würde keinen Monat im Gulag überstehen.«
Wangtu verlagerte unbehaglich sein Gewicht und ließ den Blick langsam über den seitlichen Zaun des Geländes schweifen. Dort patrouillierte in gemächlichem Tempo ein kleines Gefährt, das wie einer jener uralten Panzerwagen der Achten Armee des Langen Marsches aussah. »Er wird auch keinen Monat mehr im Lager Volksruhm überstehen, nicht dieses Mal. Seit die Brigade hier alles übernommen hat, ist ein Leben kaum noch etwas wert.« Er schien nicht länger mit Shan und Jakli zu sprechen, sondern sich in Richtung des Verwaltungsgebäudes zu wenden. Shan folgte seinem Blick. Er sah zum Friedhof.
»Ein junger Mongole hatte eine Zeitschrift mit Farbfotos von Pferden«, sagte Wangtu. »Das verstößt zwar gegen die Vorschriften, aber was soll's? Es waren ja bloß Pferde. Immer wieder schaute er sich die Bilder an und sagte, irgendwann würde auch er eine Pferdeherde besitzen. Tagsüber versteckte er das Heft hinten im Hosenbund, und da hat es die Einpeitscherin seiner Baracke während des Unterrichts zufällig entdeckt und ihm abgenommen. Sie sagte, das Magazin würde anderweitig benötigt, denn die Latrine habe kein Papier mehr. Als der Mongole ihr das Heft wieder entreißen wollte, schlug sie ihm mit einer Schaufel auf den Kopf. Es gab ein komisches Geräusch, als würde jemand auf einen morschen Ast treten. Der Junge sank zu Boden und hielt sich den Kopf, während die Einpeitscherin ihn fortwährend umkreiste und lautstark deklamierte, wie verwerflich es sei, persönlichen Besitz anzuhäufen. Als sie fertig war, brüllte sie den Mongolen an, er solle sich gefälligst bei allen anderen entschuldigen. Als er nicht reagierte, verpaßte sie ihm einen Tritt. Er kippte einfach um. Er war gelähmt. Seitdem liegt er reglos auf seiner Pritsche. Die Einpeitscherin hat sein Magazin zur Latrine gebracht.«
Jakli hob eine Hand vor den Mund, als müsse sie ein Schluchzen unterdrücken.
Wangtu zuckte zusammen. Er schien sich Vorwürfe zu machen, Jakli aus der Fassung gebracht zu haben.
»Aber warum die Warnung an Bajys?« fragte Shan. »Welche Schwierigkeiten für Lau haben Sie befürchtet? Wer war der böse Geist in Laus Nähe?«
»Lau und ich waren befreundet. Niemand außer ihr hat sich im Wagen je zu mir nach vorn gesetzt. Sie hat mir Medizin gebracht und außerdem besondere Kräutertees geschenkt, die sie in den Bergen gesammelt hatte.« Wangtu bedeutete Jakli, sie solle wieder das weiße Pferd betrachten, als könne sie auf diese Weise Trost erlangen. »Über Lau braute sich etwas zusammen. Sie wurde aus dem Landwirtschaftsrat gefeuert. Und dann der Bericht an die Öffentliche Sicherheit.« Jakli wandte sich zu den anderen Gefangenen um. »Dieser Tibeter«, fuhr Wangtu fort und sah dabei ihren Rücken an. »Ich habe ihr von diesem Tibeter erzählt.«
Jakli fuhr herum.
»Kaju. Damals kannte ich seinen Namen noch nicht, aber vor ungefähr drei Monaten habe ich ihr erzählt, daß Direktor Ko einen Tibeter für die zheli herbringen würde. Sie wußte noch nichts davon. Ich sagte, ich hätte Ko eines Tages im Wagen darüber reden hören. Anscheinend glauben die, Sie wollen von hier weggehen, habe ich zu Lau gesagt.«
Vor etwa drei Monaten hatte Lau zum erstenmal erwähnt, wo sie bestattet werden wollte, erinnerte Shan sich. »Was hat Lau darauf
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