Das Auge von Tibet
erwidert?« fragte er.
»Zuerst hat sie nur gelächelt und meinen Arm getätschelt. Dann sagte sie, ja, vermutlich tun sie das. Und dann seufzte sie und sagte, sie hätte nie nach Urumchi gehen sollen. Sonst hat sie sich immer mit mir unterhalten, aber an jenem Tag ist sie bis zum Ende der Fahrt ganz still geblieben.«
»Nach Urumchi?« fragte Shan. »Was hat sie damit gemeint?«
»Keine Ahnung.« Wangtu zuckte die Achseln. »Irgendeine Reise in die Provinzhauptstadt.«
»Was hat sie außerdem noch gesagt?« fragte Jakli.
»Bevor sie ausstieg, sagte sie, vielleicht solle sie mir lieber keinen Tee mehr mitbringen, damit die Leute deswegen später nicht behaupten würden, wir seien befreundet. Wir könnten ja trotzdem im Herzen weiterhin Freunde bleiben, aber sie wolle nicht, daß mir deswegen irgendein Leid geschehe. Ich sagte, mir sei das Gerede der Leute egal, und sie antwortete, es dürfe mir aber nicht egal sein, denn das hier sei China.« Wangtu blickte mit gequälter Miene zu dem weißen Pferd. »Von da an schien sie immer in großer Eile zu sein und hatte keine Zeit mehr, sich zu unterhalten. Ich habe sie auch nur noch selten gefahren. Und seit einem Monat habe ich sie gar nicht mehr zu Gesicht bekommen.« Er sah nachdenklich zum Horizont. »Wo ist sie gestorben? Und wer war noch da?«
»Genau das wollen wir herausfinden«, sagte Jakli.
»Nein. Ich meine, wen wollte sie aufsuchen? Das ist wichtig. Lau hat nur ganz bestimmten Leuten vertraut und sich stets in deren Nähe aufgehalten. Sie ist von einem zum anderen gezogen, wie von einer Oase zur nächsten. Ihr solltet euch am Ort ihres Todes umhören.«
Shan und Jakli sahen sich an. Lau war an einem Ort in der Wüste gestorben, über den Jakli nur ungern zu sprechen schien und an dem Bajys in einer Alptraumvision zerstückelte Menschen gesehen hatte.
»Die Anklägerin«, sagte Jakli. »Sie weiß nichts davon«, schärfte sie dem Fahrer ein.
»Und ich weiß bloß, daß Lau nicht schwimmen konnte«, entgegnete Wangtu mit gekünsteltem Lächeln und sah Jakli hoffnungsvoll an. »Ich würde niemandem davon erzählen. Nur dir, Jakli.«
Ihr war eindeutig unbehaglich zumute. »Ich werde heiraten, Wangtu«, sagte sie schnell, beugte sich vor und gab ihm einen Kuß auf die Wange. Dann ging sie zu einem anderen Häftling, den sie anscheinend wiedererkannt hatte.
Heiraten. Shan sah ihr hinterher und kam sich töricht vor, weil er es nicht von selbst erkannt hatte. Das aufgeregte Getuschel der Frauen im Lager des Roten Steins. Das hastig versteckte Kleid. Maliks heimliches Geschenk für Jakli und jemand anderen, dessen Namen der Junge nicht preisgeben wollte. Nikki, der Name, den Akzu bei ihrem Abschied in der Werkstatt erwähnt hatte. Andere Frauen hätten die Neuigkeit freudig herumerzählt. Aber Jaklis Heirat wurde geheimgehalten. Shan konnte das gut verstehen, denn auch er war in einer Welt aufgewachsen, in der man möglichst wenig darüber sprach, was einem wirklich am Herzen lag, aus Angst, es könnte weggenommen werden.
Wangtu stand niedergeschlagen da und beobachtete, wie Jakli einen kleinen dicken Han-Chinesen ansprach. »Sie müssen Jakli fernhalten«, sagte er.
»Wovon fernhalten?« fragte Shan und warf Jakli einen weiteren Blick zu. Was für ein seltsamer Zeitpunkt, um zu heiraten. Die Clans wurden zerschlagen, und jemand ermordete Kinder. Doch Shan hatte schon vor vielen Jahren gelernt, wie schwierig es war, die Sprache des Herzens zu deuten.
»Vom Lager Volksruhm. Vom Gefängnis. Manche der Wachen hassen Jakli, weil sie ihnen Widerworte gibt und sich nicht alles gefallen läßt. Sie ist nicht für einen Käfig geschaffen. Genau wie der Mongolenjunge.« Seine Enttäuschung schien sich in Sorge verwandelt zu haben. Er öffnete den Mund, sagte jedoch nichts. Dann sah er Shan an und blickte schließlich zu Boden. »Ich wäre bereitwillig für sie ins Gefängnis gegangen«, sagte er leise. »Sie gehört in die Berge, auf einen Pferderücken.« Dann verlor er sich in Gedanken, als hätte er Shan völlig vergessen.
»Das ist Genosse Hu«, sagte Jakli und kam mit dem kleinen Chinesen auf Shan zu. »Der Vorsitzende des Bildungskomitees der Schule in Yutian.«
Hu griff sich an die dicke Brille und deutete ein Lächeln an. »Inzwischen der ehemalige Vorsitzende, vermute ich«, sagte er.
»Nicht unbedingt«, wandte Jakli beruhigend ein. »Das ist bloß Anklägerin Xus typische Art, Zeugen einzuschüchtern.«
»Das habe ich ihr bereits erzählt«, sagte
Weitere Kostenlose Bücher