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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Sie anläßlich einer Hochzeit?« fragte Shan und sah ihr in die Augen.
    »Nicht nur bei Hochzeiten. Auch am Tag der Namensverleihung oder bei besonderen Festen«, antwortete sie und wandte sich wieder dem Pferd zu. »Aber vor allem bei Hochzeiten«, sagte sie dann. Ihr schüchternes und zugleich entschlossenes Lächeln ließ erkennen, daß sie sich nicht näher zu dem Thema äußern wollte.
    »Dann hat Wangtu noch gesagt, Lau habe Namen verlesen. Vom Neunundzwanzig-Fünfer und.»
    »Und von 1997«, beendete Jakli den Satz. »Politische Demonstrationen. Neunundzwanzig-Fünfer steht für den Aufstand vom neunundzwanzigsten Mai 1962. Damals haben sich in Yining Kasachen und Uiguren gemeinsam gegen die Regierung erhoben. Viele sind ums Leben gekommen. Die Behörden haben es nie öffentlich zugegeben, aber wir kennen die Namen der Toten und ehren sie, indem wir sie bei den Treffen unserer Clans laut verlesen. 1997 sind erneut Kämpfe ausgebrochen. Die Armee wurde gerufen und hat Maschinengewehre eingesetzt. In Urumchi sind Bomben explodiert.«
    »War Lau eine Dissidentin?«
    »Wenn jemand Kindern die Namen von Helden vorliest, ist er dann ein Dissident?«
    »Sie wissen, wie ich das meine. Galt sie allgemein als eine Person, die der Regierung kritisch gegenüberstand?«
    »Nein.« Es schien Jakli nur unter großer Anstrengung möglich zu sein, ihren Blick von dem Pferd abzuwenden. Sie zog ein Stück Papier aus der Tasche. »Andernfalls wären wir jetzt nicht hier, und es gäbe keinen Mord aufzuklären. Man hätte vielleicht die Notwendigkeit einer politischen Zurechtweisung bekanntgegeben oder sich eine Lüge über ihre angebliche Versetzung ausgedacht. Lau wäre jedenfalls spurlos von der Bildfläche verschwunden.« Das Stück Papier war ein zerknitterter, gefalteter Umschlag. Jakli ging zum Führerhaus des Lastwagens und stieg ein, als wolle sie den Inhalt des Umschlags lesen.
    Shan erkannte, daß die verbleibenden Reissäcke auf der Ladefläche des Lasters im tiefen Schatten des Werkstattdaches lagen. Von dort oben hatte man den gesamten Verwaltungskomplex im Blick, ohne von draußen gesehen werden zu können. Er kletterte hinauf und machte es sich bequem. Dann tat er, was er am besten konnte. Er beobachtete.
    Das sonst anscheinend stets geöffnete Lagerhaus war heute aus irgendeinem Grund geschlossen. Die drei Seiten, die Shan bislang gesehen hatte, wiesen keine Fenster auf, und das zweiflügelige Tor an der Laderampe schien den einzigen Zugang darzustellen. Es war überall ruhig. Die Nachmittagsgruppen hielten ihren Unterricht ab. Beim Heizungsgebäude transportierten einige Männer Kohlen von dem Haufen weg. Darüber hinaus war nur noch der einzelne Wachposten der Kriecher zu sehen, der vor dem kleinen Schuppen stand. Hin und wieder drehte er eine Runde um das Gebäude, hob manchmal die Waffe und zielte in Richtung Horizont. Beim Bürogebäude regte sich nichts, wenngleich aus einem offenen Fenster Musik zu hören war. Es handelte sich um einen Militärmarsch. Nach der Qualität der zerkratzten Aufnahme zu schließen, hatte man ihn schon unzählige Male abgespielt.
    Shan döste ein. Als er wieder aufwachte, stand ein weiterer Wagen vor dem Verwaltungsgebäude geparkt - eine Limousine mit roter Standarte. Die Musik hatte aufgehört, doch ansonsten deutete nichts auf die Neuankömmlinge hin. Hinter dem inneren Zaun sah Shan einige Häftlinge in der Nähe des Speisesaals. Auch eine der Unterrichtsgruppen saß mittlerweile draußen und hatte sich im Zentrum des Antreteplatzes rund um den Mast versammelt, an dem die rote Flagge der Volksrepublik wehte.
    Die Tür des Lagerhauses war nach wie vor geschlossen. Die Arbeiter bei dem Kohlenhaufen verfrachteten immer noch Brennmaterial für die Heizung ins Gebäude. Aber der Wachposten vor dem Schuppen hatte sich von irgendwoher einen Stuhl besorgt. Er saß zusammengesunken da, als sei er eingeschlafen. Seine Waffe hing an der Lehne des Stuhls.
    Shan kletterte langsam nach unten und ließ den Blick dabei fortwährend zwischen dem Verwaltungsgebäude und dem Posten hin- und herpendeln. Jakli hatte sich zu Fat Mao und ihren Cousins gesellt und schlief. Der ramponierte Umschlag lag zwischen ihren Handflächen, als hätte sie ein Gebet über ihn ausgesprochen.
    Shan ging zum Lagerhaus und mußte sich zwingen, nicht plötzlich loszulaufen. Er achtete auch weiterhin auf den Eingang neben der leeren Limousine und den einzelnen schlafenden Wachposten in der genau entgegengesetzten

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