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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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so daß Shan ihn gerade noch erreichen konnte, und nahm dann gegenüber von ihm Platz.
    »Ich weiß, was Sie hier tun«, sagte sie schroff.
    Es war vorbei, bevor es richtig begonnen hatte. Die Kinder starben auch weiterhin. Gendun war verloren. Der WasserhüterLama saß hinter Gittern. Und Shan würde nie die Gelegenheit erhalten, ihnen zu helfen, und auch nie eine Chance haben, China zu verlassen. Er legte die Hände um den dampfenden Becher. Jeder Sträfling kannte gewisse Tricks, um irgendwie durchzuhalten. Oft ging es nur darum, den jeweils nächsten Moment zu überstehen und nicht an die zukünftigen Qualen zu denken, sondern nur an das gegenwärtige Leid. Hatten seine Hände schon instinktiv angefangen, das alte Spiel zu spielen? überlegte er. Konzentrierte er sich auf die sengende Hitze des Bechers, blendete alles außer dieser einen Empfindung aus, um so gut wie möglich gegen die bevorstehenden Schmerzen gewappnet zu sein? Die Mönche in seiner Gulag-Baracke hatten ihn gelehrt, daß dies nicht die beste Methode darstellte und er statt nach krampfhafter Ablenkung vielmehr nach bewußter Klarheit streben sollte, um seinen Geist an einen Ort zu lenken, auf den kein Folterknecht jemals würde zugreifen können. Doch ihm blieb keine Zeit zur Vorbereitung, und wenn eine solche Form der Konzentration alles war, was er aufbieten konnte, mußte er sich eben dieser Krücke bedienen. Er starrte den Becher an und fragte sich, für wie viele Jahre dies wohl der letzte echte Tee sein würde, falls man ihn wieder ins »Ich heiße Xu Li«, verkündete die Frau. »Ich arbeite für das Justizministerium und bin die Anklägerin dieses Bezirks.«
    Jadehure. Shan hätte das Wort beinahe laut ausgesprochen.
    Es gab noch einen Trick, den er sich für Verhöre angeeignet hatte, diesmal nicht von den Mönchen, sondern von den khampa -Kriegern aus seiner Baracke. Komm der Angst zuvor. Nimm das Leid vorweg. Falls man dir etwas Grauenhaftes androht, stell dir etwas noch Schrecklicheres vor. Falls man dich foltern will, dann versuche selbst, dir noch größere Qualen zu bereiten. Er hob den Tee an den Mund und trank die Hälfte der kochendheißen Flüssigkeit auf einen Zug, so daß sich von seiner Zunge bis in den Magen ein stechender Schmerz ausbreitete. Dann stellte er den Becher ab und starrte der Anklägerin ausdruckslos entgegen.
    Sein Verhalten schien die Frau zu irritieren. Sie nahm ihre eigene Tasse und ließ sie sofort wieder sinken, als der Tee ihre Zungenspitze verbrühte. »Ich weiß, daß Sie aus Peking kommen. Ihren Namen kenne ich nicht.« Ihre Stimme klang ruhig und absolut selbstsicher. Sie war es offenbar schon seit langem gewohnt, stets am längeren Hebel zu sitzen. »Und ich will ihn auch gar nicht wissen.«
    Das war unglaublich. Wie konnte sie bereits über ihn Bescheid wissen? Hatte er sich dermaßen sorglos verhalten? Gehörten die Ereignisse seit seiner Ankunft in Xinjiang allesamt zu einer wohldurchdachten Falle?
    »Niemand hat mich nach meiner Zustimmung gefragt. Und das wird vermutlich auch nicht mehr passieren. Peking steckt dahinter. Die Sache stinkt drei Meilen gegen den Wind«, sagte sie, als sei dadurch viel erklärt.
    Shan sah sich im Raum um. An einer der Wände hing eine Tafel, auf die jemand oben eine Zahl geschrieben hatte. Neunhundertachtundvierzig, zweifellos die Anzahl der Bürger, die im Lager Volksruhm derzeit einer Umerziehung unterzogen wurden. Ein verblichenes Poster zeigte die strahlenden Gesichter mehrerer junger Chinesen. Vernichtet die Vier Alten, stand am unteren Rand geschrieben. So hatten die Roten Garden vor vielen Jahren eine ihrer durchgreifenderen Kampagnen bezeichnet, einen Teil jenes Wahnsinns, dem auch sein Vater zum Opfer gefallen war. Vernichtet die alte Kultur, die alten Denkmuster, die alten Gewohnheiten und alten Bräuche. Man hatte damals den Tibetern, Moslems und anderen Minderheiten auf besonders grausame Art klargemacht, wer ihre Herren waren. Alte Bücher, traditionelle Gewänder und religiöse Artefakte wurden ein Raub der Flammen. Manche der Scheiterhaufen bestanden ausschließlich aus traditionell geflochtenen Zöpfen.
    Shan betrachtete einen Abfalleimer, der vor lauter Papier überquoll. Falls es ihm gelang, Feuer zu legen, würden Jakli und die Kasachen in dem entstehenden Durcheinander das Lager vielleicht ohne weiteres Verhör verlassen können.
    »Trotzdem bin ich immer noch die Anklägerin«, sagte Xu Li lapidar.
    Shan wandte sich wieder ihr zu. Wieso redete

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