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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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aufgewacht war. Die Maschinenpistole hing von seiner Schulter, und der Zeigefinger seiner anderen Hand lag neben dem Abzug.
    »Verdammt, der Zutritt ist verboten!« herrschte der Kriecher ihn an. »Ständig! Ohne Ausnahme!»
    Dann zerrte er Shan nach draußen in die Sonne.
    »Yo!« rief der hochgewachsene Westler zum Abschied und salutierte höhnisch. »Lassen Sie uns mal zusammen Mittag essen! «
    Während Shan in die Mitte des Vorplatzes geführt wurde, wandte er sich noch einmal zu dem Amerikaner um. Der Mann tat mit übertriebenem Achselzucken seine Enttäuschung kund, woraufhin die Männer beim Kohlenhaufen in lautes Gelächter ausbrachen. Dann zog er sich seine Mütze wieder ins Gesicht und schaufelte weiter.
    Shan sah wieder nach vorn und kämpfte gegen seine Angst an. Er war bei der Untersuchung des Heizungsgebäudes nicht nur gestört worden - man hatte ihn entdeckt. Und nun wurde er von einem Kriecher begleitet. Kriechern war es gleichgültig, was man wollte. Für sie zählte nur der Wille der Öffentlichen Sicherheit.
    Doch als sie den leeren Platz überquerten, schien der Vorsatz des Postens sich zu verflüchtigen. Seine Schritte wurden kürzer. Er ließ Shans Arm los und schaute erst zu dem Schuppen, den er eigentlich bewachen sollte, und dann zu dem Verwaltungsgebäude. Unschlüssig betrachtete er Shan. Plötzlich ruckte sein Kopf wieder in Richtung des Bürogebäudes. Dort stand jemand auf der Treppe, eine Frau in einem dunkelblauen Kostüm. Anklägerin Xu Li.
    Der Kriecher warf erneut einen kurzen Blick auf Shan und meldete sich nervös zu Wort. »Niemand darf sich den Männern beim Heizungsgebäude nähern, das ist alles«, sagte er und strich mit einfältiger, ehrerbietiger Miene die Schultern von Shans schäbiger Jacke glatt. Dann kehrte er im Laufschritt zu seinem Schuppen zurück.
    Die Frau sah Shan auffordernd entgegen. Sie wartete, daß er zu ihr kommen würde. Auf einen Soldaten mit Maschinenpistole konnte sie verzichten. Ihr strenger Blick war Waffe genug.
    Bei der Werkstatt schien sich niemand zu rühren. Würde man ihm wenigstens Gelegenheit geben, sich von Jakli zu verabschieden oder Lokesh eine Nachricht zukommen zu lassen? Nein, begriff er, Jakli und die anderen durften auf keinen Fall in die Sache verwickelt werden. Er überlegte fieberhaft. Seine Ausrede würde lauten, daß er Jakli und Fat Mao angelogen hatte und die beiden nichts über ihn wußten.
    Shan legte eine Hand auf die Brust und fühlte das gau , das er um den Hals trug. Dann atmete er tief durch und setzte sich mit kleinen, gleichmäßigen Schritten in Bewegung, um sich dem unvermeidlichen Schicksal zu stellen. Sein Magen zog sich vor Angst zusammen, aber er kämpfte dagegen an, indem er sich auf seine Erfahrungen als Sträfling besann. Würde man ihn zurück nach Tibet bringen? Würde man ihn zum Verhör an den geheimen Ort in der Wüste verfrachten, den er bereits von früher kannte? Oder würde man zu dem Schluß kommen, daß er die ganze Mühe nicht wert sei, und ihn an Ort und Stelle beseitigen?
    Als er sich der Frau näherte, versuchte er, aus ihrem reglosen und finsteren Antlitz schlau zu werden. Überraschenderweise las er darin nichts von der üblichen Verachtung, die ein Wärter einem Gefangenen entgegenbrachte. Auch von Mißtrauen war keine Spur zu entdecken. Die Anklägerin wirkte lediglich ungeduldig.
    Als er die Treppe fast erreicht hatte, machte Xu auf dem Absatz kehrt, ging hinein und ließ die Tür für ihn offen. Er folgte ihr.
    Im Innern sah es genauso aus wie in den tausend anderen Regierungsgebäuden, die Shan kannte. Den Hauptteil der Etage nahm ein großer offener Saal mit zwei Reihen von Metalltischen ein, die überwiegend nicht besetzt waren. An einem der Computer saß eine junge Frau kasachischer oder uigurischer Abstammung, die ihr Haar zu zwei kurzen Zöpfen geflochten hatte. Sie warf Shan einen kurzen Blick zu und wandte die Augen sogleich nervös wieder ab. Jemand flüsterte eine Warnung. Shan registrierte, daß zwei andere Büroangestellte fluchtartig ihre Plätze verließen und von einer weiteren Frau in ein Hinterzimmer gewinkt wurden. Offenbar hatte man bei Xu Anzeichen vulkanischer Aktivität festgestellt und rechnete mit einem Ausbruch.
    Die Anklägerin erwartete ihn an der Tür eines Konferenzraums und wies auf einen der Stühle, die rund um einen großen Metalltisch standen.
    Shan setzte sich. Sie ging zu einer Thermoskanne, goß zwei Becher Tee ein, stellte einen davon auf den Tisch,

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