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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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er.
    »Sie hat oft hier zu tun«, erwiderte Jakli und machte keinen Hehl aus ihrer Verbitterung.
    »Ich meine, sie hat mit mir gesprochen.« Dann beschrieb er das seltsame Zusammentreffen mit Xu.
    Fat Mao kam ganz nahe heran und bat ihn, Xus Worte zu wiederholen. »Sie hat dich mit jemandem verwechselt«, stellte der Uigure überrascht und zugleich verwirrt fest.
    »Nicht nur das«, wandte Shan erschaudernd ein. »Es hat sie kein bißchen gestört, daß ich mit Kasachen und Uiguren unterwegs bin. Ein Han-Chinese, der gemeinsame Sache mit den Nomaden macht?« Er sah Fat Mao direkt ins Gesicht. »Ein Chinese, vor dem sogar die Anklägerin auf der Hut ist?«
    »Aus Peking«, fügte Jakli leise hinzu.
    Fat Mao stieß eine Verwünschung aus. »Man hat sechs Nummern vorgemerkt«, rief er ihr ins Gedächtnis. »Für Festnahmen der Einsatzkommandos. Das Hauptquartier der Kriecher setzt mitunter Spione ein. Verdeckte Ermittler.«
    »Was hat das zu bedeuten?« fragte Jakli.
    »Ich weiß es nicht«, sagte Shan. »Aber die Clans der Grenzregion könnten sich in sogar noch größerer Gefahr befinden, als wir bislang vermutet haben. Nur wegen des Armutsprogramms würden die Kriecher keinen Spion entsenden. Wo sonst noch versammeln sich die Clans? Wo könnte ein Fremder sich bei ihnen einschleichen?«
    Jakli dachte kurz nach. »In Karatschuk. Wo Lau ermordet wurde.«
    Shan nickte. Lau war mit ihren Geheimnissen in die Wüste gegangen, und irgend jemand hatte den Ort ihres Vertrauens unterwandert. »Beschreiben Sie mir den Weg.«
    »Ich bringe Sie hin.«
    »Nein. Sie müssen in die Stadt zurückkehren. Denken Sie an Ihre Bewährungsauflagen!»
    »Ich habe Lau ein Versprechen gegeben.«
    »Lau würde bestimmt nicht wollen, daß Sie zurück ins Gefängnis müssen.«
    »Na sicher, ich setze mich einfach hin und mache Hüte«, sagte Jakli mit angespannter Stimme. »Leuchtendrote Mützen mit aufgestickten Perlen. Oder purpurne Hüte mit Pailletten. Und unterdessen sterben Kinder, und der Clan wird in alle Winde verstreut.« Sie wandte sich wütend um, ging auf die andere Seite der Werkstatt, lehnte sich dort gegen den Pfeiler und starrte in die Finsternis.
    Shan erkannte, daß sie nicht ziellos ins Leere blickte, sondern einen dunklen Fleck in der Ferne anvisierte. Ungefähr dort lag der Pferch mit dem weißen Pferd. Das Tier tänzelte nervös umher. Shan konnte das leise Hufgetrappel hören. Als er neben Jakli trat, stimmte sie ein leises Lied in der Sprache ihres Clans an. Eines der Worte erkannte Shan. Es wurde häufig wiederholt. Khoshakhan. So sagte man den Tieren, daß man sie liebt.
    »Für das Pferd, nicht wahr?« fragte Shan, nachdem Jakli geendet hatte.
    Sie zuckte zusammen, als hätte sie ihn zuvor nicht bemerkt. »Ja. Der Text.« Sie mußte einen Moment lang überlegen. »Im Text heißt es: Du bist aus dem brausenden Wind geschaffen. Ich werde dir Eulenfedern in die Mähne binden, und dann reiten wir geschwind wie ein Pfeil in die Wolken über den Bergen. Mein Großonkel hat es mir beigebracht. Er war ein synshy - ein Pferdekenner. Er konnte mit den Pferden sprechen.«
    »Sagten Sie gerade Eulenfedern?«
    »Eulenfedern bringen Glück. Und Weisheit.«
    Shan stellte fest, daß er die Hand auf sein gau gelegt hatte.
    »Am Tag meiner Namensverleihung wurde ein wunderhübsches schwarzweißes Fohlen geboren, und mein Vater versprach, es würde mir gehören. Wir sind zusammen aufgewachsen. Sein Name war Zharya. Wir haben viele Rennen gewonnen. Oft sind wir auf die Hochweiden geritten, und dann habe ich ihm mit meiner dombra etwas vorgespielt.« Hinter ihnen flüsterte jemand, und als Shan sich umdrehte, sah er, daß auch die anderen Jaklis Geschichte mit anhörten.
    »Ist er noch immer im Lager des Roten Steins?« fragte Shan.
    Sie stimmte erneut das Lied an, summte diesmal aber nur die Melodie. »Nein«, antwortete sie schließlich betrübt, als Shan schon zu glauben begonnen hatte, sie habe ihn nicht gehört. »Eines Tages haben Zharya und ich einen schweren Baumstamm quer über die Straße gezogen, weil ich wußte, daß ein Armeelaster kommen würde.« Sie trat einen Schritt in die Dunkelheit vor. »Wir sind den Berg hinaufgeritten und haben oben auf einer Klippe gewartet, wo die Soldaten uns niemals erwischen würden. Lachend haben Zharya und ich beobachtet, wie die Männer versuchten, den Baumstamm von der Fahrbahn zu rollen. Dann stöhnte Zharya auf und fiel um, und im selben Moment ertönte von unten ein Knall. Sie hatten mit

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