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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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sie um den heißen Brei herum? »Ich habe mir Ihr Lager angesehen«, sagte er vorsichtig.
    »Mein Siegel ist hier ordnungsgemäß registriert. Das Lager Volksruhm wird von vielen Bezirken Xinjiangs und Tibets genutzt.«
    Was hatte sie vor? Wollte sie ihn vor dem tödlichen Stoß noch ein wenig zappeln lassen? »Ich habe keinen Zweifel daran, daß Sie eine überaus fähige Hüterin des Volkes sind, Genossin Anklägerin.« Er hielt ihrem ruhigen Blick stand.
    Sie hob den Becher, als wolle sie einen Toast auf Shan ausbringen, und nippte dann an dem Tee, ohne ihren Gast aus den Augen zu lassen. »Mein Dienst am Volk dieses Bezirks dauert nun schon viele Jahre, und es gibt nichts, wofür ich mich schämen müßte. Nach Ablauf des ersten Turnus hätte ich nach Peking zurückkehren können, aber ich wollte bleiben. Die Partei und das Ministerium haben mir für die hier erzielten Fortschritte zahlreiche Auszeichnungen zuteil werden lassen.«
    Shan hob ebenfalls anerkennend den Becher. Woran genau messen Sie diese Fortschritte? hätte er am liebsten gefragt. An der Zahl der Bürger, die Sie ins Gefängnis gesteckt haben? An der Größe des Lagerfriedhofs?
    »Ich glaube an Recht und Gesetz«, fuhr Xu fort. »Mir ist bewußt, daß Sie einen bestimmten Auftrag haben. Aber lassen Sie sich versichern, Genosse, ich fürchte mich nicht davor, ebenfalls meine Arbeit zu tun. Ich werde jeden Gesetzesbrecher nachdrücklich verfolgen.« Xu starrte ihn feindselig an, stand plötzlich auf und ging aus dem Raum, ohne die Tür hinter sich zu schließen.
    Shan starrte ihr völlig verblüfft hinterher. Nach der buddhistischen Mythologie konnte man auf Reisen gewissen Geistern begegnen, die in Rätseln sprachen und vielleicht sogar Drohungen ausstießen. Falls diese Geister jedoch weiterzogen, ohne den Reisenden zu fressen, galt die Begegnung als glückverheißend.
    Die Angestellten an den Schreibtischen blickten nicht einmal auf, als Shan das Büro durchquerte. Keine Wachen stürzten sich auf ihn. Keine Ärzte mit einsatzbereiten Injektionsnadeln. Shan blieb stehen. Er war noch immer ganz aufgewühlt. Erst als die ersten Gesichter sich ihm zuwandten, eilte er zur Ausgangstür.
    Die Limousine draußen war verschwunden. Jakli und ihre Cousins schliefen noch. Shan sah im Handschuhfach des Lastwagens nach und vergewisserte sich, daß dort eine Taschenlampe lag. Dann kletterte er auf die Ladefläche, streckte sich auf den Reissäcken aus und sank schließlich in einen unruhigen Schlaf. Er träumte von toten Kindern.
    Als er aufwachte, war es dunkel. Der gesamte Verwaltungskomplex wurde lediglich von ein paar trüben Glühlampen unterhalb der diversen Lautsprecher erhellt. Jakli und die anderen hockten neben einem kümmerlichen Feuer aus Holzresten. Sie hatten einige kleine Äpfel auf Schraubenzieher gespießt und rösteten sie über den Flammen. Jakli schob einen der Äpfel auf einen öligen Lappen und hielt ihn Shan hin.
    Er nahm die Frucht dankbar entgegen und warf sie von einer Hand in die andere, um sie ein wenig abzukühlen. »Hat man Ihnen einen Grund für die Schließung des Lagerhauses genannt?« fragte er.
    »Sie ist auf Befehl der Öffentlichen Sicherheit erfolgt, mehr wissen wir nicht. Der Bau wird hin und wieder ausgeräuchert, vielleicht mit giftigem Schädlingsbekämpfungsmittel.«
    »Ich glaube, daß man dort drinnen jemanden gefangenhält.«
    Jakli zuckte Achseln. »Immerhin ist das hier ein Gefängnis.«
    Shan nickte in Richtung des Schornsteins. »Wohin sind diese Männer verschwunden? Sie haben Kohlen transportiert.« Inzwischen schien sich bei dem Heizungsgebäude niemand mehr aufzuhalten.
    »Keine Ahnung«, sagte Fat Mao. »Wir haben geschlafen.«
    »Warum gibt es hier Wachposten der Öffentlichen Sicherheit?«
    Jaklis Kopf ruckte hoch. »Kriecher? Hier sind Kriecher?« Sie wich ein Stück zurück, bis ihr Gesicht im Schatten lag. Die anderen sahen sich mißtrauisch um. Ihr Verhalten bedurfte keiner Erklärung.
    »Ich habe nur einen gesehen.« Shan schaute zu dem Schuppen, der nun völlig verlassen wirkte. »In der Nähe des Heizkessels.« Aus dem Schornstein stieg etwas Rauch empor. Offenbar hatte man das Feuer mit Asche belegt, damit es nur langsam weiterbrannte. Nachts würde hier im Lager weniger Elektrizität und Wärme vonnöten sein. Jakli ging zu einem der Stützpfeiler, lehnte sich dagegen und ließ den Blick über das Gelände schweifen.
    Shan trat neben sie. »Und die Anklägerin habe ich auch gesehen«, sagte

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