Das Auge von Tibet
einem Gewehr auf ihn geschossen.« Jaklis Blick war noch immer in die Finsternis gerichtet. »Es hat den ganzen Nachmittag gedauert, bis er tot war. Er lag einfach da, mit dem Kopf in meinem Schoß, und sah mich an, als sei das alles nur ein schlechter Scherz.«
Eine plötzliche Windbö durchbrach die Stille, ein trockener, kühler Luftzug, der nach Kohlenstaub roch.
»Aber jetzt haben Sie doch ein neues Pferd, oder?« wagte Shan sich schließlich vor.
»Das Pferd von gestern? Nein, das war bloß irgendein Tier aus der Herde des Clans. Ich habe kein Pferdeleben mehr«, stellte sie mit großem Kummer fest und kletterte wieder auf die Reissäcke, um sich schlafen zu legen.
Shan lehnte sich gegen den Pfeiler, wartete noch eine Viertelstunde ab und stieg dann zu den anderen auf die Ladefläche. Aber er schlief nicht. Er beobachtete.
Das Gelände war menschenleer, doch auf den Wachtürmen brannte Licht, und in unregelmäßigen Abständen schaltete jemand dort Scheinwerfer ein, mit denen dann der Zaun ausgeleuchtet wurde. Shan würde es nicht schaffen, sich unbemerkt durch den Drahtverhau zu schleichen, um mit dem Wasserhüter zu sprechen oder in der Sonderbaracke nach Gendun zu suchen. Shan blickte wieder zu dem Heizungsgebäude. Es wurde weiterhin Strom verbraucht. Irgendwann würde jemand das Feuer schüren oder Kohlen nachlegen müssen.
Er sah den Mond aufgehen und hörte, wie zum Zeichen des Zapfenstreichs die Nationalhymne aus den Lautsprechern ertönte. Wie streng wurde wohl in einem lao jiao Lager auf die Einhaltung dieser Vorschrift geachtet? Bestimmt nicht so unbarmherzig wie damals im Gulag, wo man gar nicht erst Fragen stellte. Wenn dort ein Häftling nach dem Zapfenstreich außerhalb der Baracken erwischt wurde, drohte ihm die sofortige Erschießung.
Shan mußte eingenickt sein, denn als er das nächste Mal aufblickte, stiegen wesentlich dichtere Rauchschwaden aus dem Schornstein. Jemand hatte für Nachschub an Brennmaterial gesorgt. Von den Arbeitern war keine Spur zu entdecken. Er wartete einige Minuten ab, kletterte dann leise vorbei an seinen Gefährten nach unten und holte die Taschenlampe aus dem Handschuhfach. Die Batterien waren nahezu erschöpft, und das Licht reichte kaum einen Meter weit. Perfekt für seine Zwecke.
Langsam überquerte er die freie Fläche und umrundete den Schuppen in der Nähe des Heizungsgebäudes. Auf der Rückseite befand sich ein verriegeltes Fenster. Shan drückte sein Gesicht an die Scheibe, konnte aber nichts erkennen. Von der vorderen Ecke aus suchte er das Gelände ab. Am äußeren Zaun bewegten sich die hellen Scheinwerfer eines einzelnen Fahrzeugs. Eine Patrouille.
Shan wartete, bis der Wagen die Vorderseite des Areals hinter sich gelassen hatte und abgebogen war, um dem Verlauf des Zauns in den rückwärtigen Bereich des Lagers zu folgen. Dann lief Shan zur Tür des Schuppens. Sie war offen. Die Hütte bestand aus zwei kleinen Räumen. Der erste enthielt eine Reihe von Schaufeln, Harken und Besen. Auf dem Boden lag ein langes, in Leinen gewickeltes Bündel. Shan hatte derartige Bündel zuvor schon auf Teppichmärkten gesehen. Die Webstühle Xinjiangs, vor allem in dieser entlegenen Südwestecke der Region, hatten China und den Rest der Welt bereits zur Zeit der Seidenstraße mit Teppichen versorgt.
Vorsichtig ging Shan in den hinteren, etwas größeren Raum. Hier hatte man in fünf oder sechs Schichten Kartons gestapelt. Die meisten waren zugeklebt und schienen direkt aus der Fabrik zu stammen, doch im trüben Licht der Taschenlampe konnte Shan die englisch und japanisch beschrifteten Etiketten entziffern. Radios, Kassettenrekorder und Videokameras. Mehr als dreißig kleine Schachteln enthielten ein Gerät, das Discman hieß. In zwei luftdicht schließenden metallenen Munitionskisten fanden sich Arzneimittelfläschchen in der Originalverpackung des Herstellers. Einige erkannte Shan als Antibiotika, andere trugen englische Markennamen, die er noch nie gehört hatte. Er zog einen kleinen Notizblock aus der Tasche, listete den Inhalt dieses Warenlagers auf und fügte dann noch eine hastig gekritzelte Überschrift hinzu: Lager Volksruhm, Schwarzmarktgüter.
Wieso hatten ausgerechnet die Kriecher diesen Schuppen bewacht? Wollten sie Beweise sichern - oder wollten sie ihre eigene Investition schützen? Gedankenverloren kehrte Shan in den vorderen Raum zurück und kniete neben dem Teppich nieder, der zweifellos ebenfalls zu den Wertgegenständen gehörte. Als er
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