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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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sich vorbeugte, fiel die Taschenlampe zu Boden und rollte ein Stück weg. Shan holte sie sich vorerst nicht zurück, sondern steckte die Finger in das Bündel, um die Webqualität des Teppichs zu ertasten, weil er den Wert abschätzen wollte. Entsetzt zuckte er zusammen.
    Er stieß unwillkürlich einen leisen Schrei aus und taumelte nach hinten. Keuchend schleppte er sich zum Eingang, riß die Tür ein Stück auf und sog hektisch die kühle Nachtluft in seine Lunge, um sich wieder etwas zu beruhigen. Es dauerte mehrere Minuten, bis er sich so weit gefaßt hatte, daß er zu dem Bündel zurückkehren konnte.
    Das war kein Teppich. Shan nahm die Taschenlampe, schlug die Leinenhülle zurück und betrachtete seine grausige Entdeckung. Ein junger Mann starrte ihn an, überrascht und leblos. Die Haut des Toten war mit Ruß bedeckt und sein Haar tiefschwarz. Der Körper war noch nicht kalt. Shan spürte etwas Feuchtes an den Fingern und neigte sich tiefer herab. Man hatte dem Mann das linke Ohr abgetrennt. Es war eine alte Form der Folter, die während der Kulturrevolution große Beliebtheit erlangt hatte. Falls ein Häftling sich weigerte, Informationen preiszugeben oder Namen zu nennen, schnitt man ihm das Ohr ab. Wenn du uns nicht mitteilen willst, was du gehört hast, welchen Nutzen haben deine Ohren dann noch? pflegten die Schergen der Roten Garden zu schreien. Auf dem Gesicht des Toten lag ein leichtes Grinsen. Als Shan die schwache Lampe dichter an die Augen des Mannes hielt, verwandelte seine tiefe Traurigkeit sich abermals in blankes Entsetzen. Die Augen waren blau.
    Er rieb mit einer Ecke der Leinenhülle über das Haar des Toten. An dem Stoff blieb eine fettige schwarze Schmiere haften. Shan roch daran. Schuhcreme. Er reinigte die Haare etwas gründlicher, bis er erkennen konnte, daß ihre Farbe eigentlich der eines Strohbesens ähnelte. Dann fuhr er mit dem Fingernagel durch die dicke Rußschicht im Gesicht des Mannes und hinterließ eine weiße Spur. Es war der Fremde aus dem kleinen Kraftwerk, der spöttische Amerikaner, den er am Heizkessel getroffen hatte.
    Shan ließ sich im Lotussitz nieder und löschte das Licht, so daß der Raum nur noch durch die Strahlen des Halbmondes erhellt wurde, die durch die offene Tür hereinfielen. Nicht der Tod an sich lastete so schwer auf ihm, sondern die Tatsache, daß der Tod ihm so vertraut war. Seit er sein früheres Leben in Peking zurückgelassen hatte, war der Tod ihm ein ständiger Begleiter geworden. Wahrscheinlich stimmte es, was einer seiner Lehrer gesagt hatte, daß nämlich einer Seele durch die Begegnung mit dem Tod ihre letzten Grenzen aufgezeigt wurden. Vielleicht war das die Ursache für seine tiefe Betroffenheit. Die Konfrontation mit dem Tod schien die Unvollkommenheit der meisten Menschen überdeutlich werden zu lassen, und je näher Shan dem Tod kam, desto unvollkommener fühlte er sich.
    Er hatte keine Ahnung, wie lange er dort neben dem Toten im Mondschein sitzen blieb. Als er sich seiner Umgebung wieder bewußt wurde, erkannte er, daß er das buddhistische Gebet für den Übergang der Seele aufsagte. Seufzend schaltete er die Taschenlampe wieder ein und fing an, die Leiche des Westlers auszuwickeln. An der linken Hand des Mannes fiel ihm ein Streifen sauberer weißer Haut auf. Man hatte dem Toten einen Ring abgenommen. Der Ring an seiner rechten Hand war hingegen noch vorhanden. Shan zog ihn ab, einen einfachen Ring aus Stahl mit einem simplen Muster, den man wohl für wertlos erachtet hatte. Die Hemdtaschen des Mannes waren leer. Shan knöpfte das Hemd auf. An der rechten Schulter hatte der Fremde eine Narbe, und über der rechten Hüfte sah Shan ein großes ovales Muttermal.
    Die Jeans des Mannes trug ein amerikanisches Etikett. Levi's. Die Taschen schienen leer zu sein. Seine teuren amerikanischen Wanderstiefel waren ebenfalls nicht mehr da. Shan nahm sich die Hosentaschen noch einmal gründlicher vor. Ganz unten in der rechten Gesäßtasche fand er ein zusammengerolltes Stück Papier, das man bei der ursprünglichen Durchsuchung offenbar übersehen hatte. Darauf standen in lateinischen Buchstaben fünf Abkürzungen: FBP, SBRF, SSCF, TBLF und in der letzten Zeile ein einzelnes C.
    Shan kniete neben dem Kopf des Amerikaners nieder und starrte ihm eindringlich in die Augen, als könnte er den Toten auf diese Weise ins Leben zurückrufen. Er wußte nichts über den Mann, außer daß er jung, stark und freundlich gewesen war. Und weit weg von allem, was

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