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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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sein Zuhause hätte sein können.
    Die Kriecher waren dafür verantwortlich. Die Kriecher hatten einen Amerikaner getötet, begriff Shan auf einmal. Wodurch war dieser Mann ihnen gefährlich geworden? Der Mord an einem Ausländer stellte eine zutiefst heikle Angelegenheit dar, sogar für die Kriecher. Und was war so wichtig gewesen, daß der Fremde dafür in einer dermaßen abgelegenen und einsamen Gegend sein Leben riskiert hatte? Manchmal brachten die Einsatzkommandos besondere Gefangene her, hatte Jakli gesagt. Geheime Gefangene.
    Langsam wickelte Shan den Toten wieder ein, stand dann auf, ging zwei Schritte und umklammerte das gau vor seiner Brust, als ihn plötzlich wieder eine Woge der Hilflosigkeit übermannte. Er rannte nach draußen, flüchtete auf die Rückseite des kleinen Gebäudes und lehnte sich dort ermattet gegen die Wand, um tief die frische Nachtluft einzuatmen und zu versuchen, sich vom Geruch des Todes zu befreien. Als er auf die Knie sank, hörte er wieder deutlich diese qualvolle Stimme, als würde der verzweifelte Nomade unmittelbar hinter ihm stehen. Ihr müßt euch beeilen. Der Tod geht weiter um.

Kapitel 6
    Der Schildkrötenlaster schlingerte durch die Wüste wie ein kleines Boot in rauher See und kämpfte sich schaukelnd und stampfend quer durch die Sandwogen. Jakli hatte am Steuer jede Menge zu tun, mußte beim Weg über die Dünen immer wieder den Anfahrtwinkel korrigieren oder auffällig hellen Sandflächen ausweichen und durfte dabei nie den nordöstlichen Kurs aus den Augen verlieren, der sie direkt ins Herz der Wüste führte. Als sie von der Straße abgebogen waren, hatte Jakli den Wagen angehalten und Shan einen ernsten Blick zugeworfen. »Die Takla Makan«, hatte sie gesagt und auf die endlose Sandfläche gedeutet. »Es ist ein alter Begriff aus der Zeit, als es noch keine Schrift gab. Weil hier draußen so viele Menschen gestorben sind. Übersetzt bedeutet er Ort ohne Wiederkehr.«
    Doch Shan hatte ohnehin das Gefühl, sich in einer ausweglosen Situation zu befinden. Mit dem Amerikaner hatte er nichts zu tun, hielt er sich immer wieder vor Augen und musterte die unwirtliche Landschaft. Dieses Geheimnis sollte ein anderer lösen. Er hatte Lau, Gendun, die toten Jungen und nun den Wasserhüter, da blieb kein Platz mehr, sich auch noch um einen toten Amerikaner zu kümmern. Es war lediglich einem schrecklichen Zufall zu verdanken, daß er die Leiche überhaupt entdeckt hatte. Der Amerikaner stand in keinerlei Beziehung zu Lau und Khitai. Vielleicht war sein Tod ein Teil des seltsamen Spiels zwischen den Kriechern und der Anklägerin, oder es gab womöglich eine Verbindung zu Ko Yonghong, der laut mit irgendwelchen amerikanischen Beratern geprahlt hatte. Höchstwahrscheinlich zeichneten jedoch die Einsatzkommandos dafür verantwortlich, die mitunter verdächtige Elemente durch ganz China transportierten, um sie an Orten wie dem Lager Volksruhm verschwinden zu lassen. Dennoch schwebte der Tod des Amerikaners wie ein dunkler Schatten über ihm. Shan begann langsam zu glauben, was die Einheimischen der Gegend ihm immer wieder versicherten: Dies war ein Schattenland, ein vergessener Winkel, eine Region zwischen den Welten, wo die Menschen wie Gespenster im Dunkeln vegetierten und ein Leben kaum etwas galt.
    »Anscheinend sehen Sie Dinge, die mir verborgen bleiben«, stellte Shan fest. Er war sich nicht sicher, ob der Ausdruck auf Jaklis Gesicht von Ärger oder bloß von einer angespannten Aufmerksamkeit zeugte. Obwohl es ihre erklärte Absicht war, Shan an den Schauplatz von Laus Ermordung zu bringen, hatte Fat Mao sie vom Gegenteil überzeugen wollen und eingewandt, daß sie in die Hutfabrik zurückkehren müsse und der Ort namens Karatschuk viel zu gefährlich für Shan sei. Zu jenem Zeitpunkt waren sie gerade wieder bei der Werkstatt in den Bergen eingetroffen. Akzu hatte sie bereits erwartet und mit dem mürrischen Mechaniker einen Schlauch kumys geleert. Dann hatte er wütend auf die majestätischen Gebirgskämme gewiesen und seine Stimme erhoben. Aber als seine Nichte ihm versprochen hatte, nach der Reise sogleich wieder in die Fabrik zurückzukehren, hatte er sie schließlich umarmt, war zum Gebet niedergekniet und hatte sich nach Westen verneigt, in Richtung der heiligen Stadt des Islam.
    »Eigentlich sollten wir uns lieber nicht mit einem Laster in die Wüste wagen«, sagte Jakli nun nach kurzem Zögern. »Nur mit Kamelen ist es halbwegs sicher, und selbst dann verliert ein

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