Das Auge von Tibet
unerfahrener Reisender häufig noch sein Leben. Aber es ist nicht mehr weit, und so nah bei den Bergen können wir einen Großteil der Strecke in dem alten Flußbett zurücklegen.« Sie fuhr ein flache staubige Böschung hinab und gelangte in eine breite ebene Rinne aus festem Sand. »Man darf nur nicht auf die weichen Stellen fahren.«
»Und falls doch?«
»Die Wüste verschluckt einen Lastwagen genauso schnell wie einen Mann oder ein Kamel.« Wie aufs Stichwort kam am Ufer des früheren Flusses ein Haufen gebleichter weißer Knochen in Sicht. »So ist es immer gewesen, schon seit der Anfangszeit der Seidenstraße. Manche Leute haben an der Durchquerung der Wüste ein Vermögen verdient. Andere sind einfach nur gestorben.«
Nach knapp einer Stunde erkannte Shan am Horizont eine Reihe großer dunkler Flecke. Sie waren ungleichmäßig geformt und wirkten im einen Moment wie mißgestaltete Gebäude, dann wieder wie erodierte Felsformationen. Für einen kurzen Augenblick hatte Shan den Eindruck, das dort in der Ferne seien riesige Geschöpfe, die sich unter schweren Lasten krümmten.
An einer Biegung des Flußbetts gab Jakli Gas, fuhr geradewegs die Böschung empor und direkt auf die seltsamen Gebilde zu. Einige hundert Meter davor bog sie im rechten Winkel ab und fuhr parallel in Richtung Süden weiter. »Die Seidenstraße«, sagte sie plötzlich. »Wissen Sie viel darüber?«
»Nur was in den Schulbüchern steht«, erwiderte Shan und zuckte die Achseln.
Jakli verzog das Gesicht. »Da werden Sie vermutlich erfahren, es habe sich um eine Epoche furchtbarer Klassenkämpfe und großer Unterdrückung gehandelt, während der man auf dem Rücken von Sklaven Tempel zur Anbetung des Reichtums errichtete.« Sie verlangsamte die Geschwindigkeit, um einen kurzen Blick auf die geheimnisvollen Formen zu werfen. »Wenn Sie hingegen unsere Geschichtsbücher lesen, dann ist das so, als würden Sie wundervolle Gemälde von der Rückseite der Leinwand betrachten.« Sie deutete auf die Formationen. »Das prächtige Karatschuk. Unsere Lehrer ignorieren es, weil es nicht chinesischen Ursprungs ist. Aber es sind Orte wie diese, die mich gelehrt haben, die Takla Makan nicht zu verdammen. Die Wüste mag trügerisch sein, doch genau dieser Umstand hat auch viele ihrer Schätze bewahrt.«
Sie hielten auf eine Kette niedriger, flacher Hügel zu, und als eine uralte Mauer in Sicht kam, hellte Jaklis Miene sich auf. »Karatschuk war eine Oase an der südlichen Route der Seidenstraße«, erklärte sie. »Damals floß aus den Eisfeldern des Gebirges noch genug Wasser zu Tal, um den Fluß ganzjährig zu speisen, und so entstand dieser einst wichtige Handelsposten, der in den alten Texten für seine Fruchtbarkeit und Gastfreundschaft gerühmt wird. Hier wohnten Uiguren, Kasachen und Tibeter, und ihr Leben war so angenehm, daß viele Reisende Monate oder Jahre in Karatschuk verweilten, manche sogar für den Rest ihres Lebens. Bis vor kurzem wußten wir nur aufgrund der alten Schriften davon, denn vor vielen Jahrhunderten ließ ein karaburan, ein mächtiger Sandsturm, den Ort von der Erdoberfläche verschwinden. Doch vor zehn Jahren wurde durch einen weiteren Sturm die oberste Schicht wieder freigelegt.«
Inzwischen konnte Shan deutlich erkennen, daß es sich bei den Gebilden um die Überreste von künstlich errichteten Bauwerken handelte. Die sandfarbene, oben abgeflachte Mauer bestand aus gepreßter Erde. Sie war stellenweise eingestürzt, und durch die Lücken sah man zahlreiche kleine Sandhügel, deren gleichmäßige Anordnung auf Gebäude schließen ließ. Als der Laster den Kamm der Düne erklomm, die südlich der Mauer wie eine gewaltige Schneeverwehung aufragte, erblickten sie eine große, eindeutig menschlich geformte Gestalt. Es war die Statue eines liegenden Buddhas, der, auf einen Ellbogen gestützt, in Richtung der südlichen Berge und damit nach Tibet schaute. Die Schulterhöhe der Figur betrug rund sechs Meter, und der Großteil des Kopfes existierte nicht mehr. Oberhalb des Halses war nur noch der heiter lächelnde Mund übriggeblieben.
»Ich hatte ganz vergessen, daß es hier zu jener Zeit Buddhisten gab«, sagte Shan langsam. Buddhisten. Vielleicht war er letztlich doch noch auf eine Spur gestoßen, eine Spur verborgener Buddhisten. Der moslemische Junge, der eine Gebetskette trug. Der geheime tibetische Unterrichtsraum in Laus Höhle. Der Wasserhüter im Reislager. Ein kopfloser Buddha in der Wüste.
»Ursprünglich war dies
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