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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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eine vollständig buddhistisch geprägte Region, auch noch viele hundert Kilometer nördlich und östlich von hier. Dann kamen die Moslems aus dem Westen und die Chinesen aus dem Osten«, erläuterte Jakli. »Ich habe die Aufzeichnungen eines Reisenden aus dem Osten gelesen«, fuhr sie nach kurzer Pause fort. »Er hieß Xuanzang und trat als Gesandter des chinesischen Kaisers eine Pilgerfahrt nach Indien an, die ihn auch durch das Königreich Karatschuk führte. Das ist jetzt mehr als tausenddreihundert Jahre her. Eine Volkszählung hatte ergeben, daß fünftausend Menschen hier lebten, und zwar in Frieden und Wohlstand, wie es ihn im damaligen China nicht gab. Über allen Türen hingen Weinreben. Die Bürger hatten am Straßenrand Pfirsich- und Granatapfelbäume gepflanzt, und auf Geheiß des Königs durfte jeder Passant sich zur Erfrischung eine der reifen Früchte pflücken, aber nur eine.« Jakli lächelte gequält. »Das nenne ich einen aufgeklärten Kommunismus.«
    Sie wies nach Süden, wo am Horizont die Gipfel des Hochgebirges zu sehen waren. »Aber das alles war nur dem Eis in den Bergen zu verdanken, dessen Wasser die Flüsse und Bewässerungskanäle speiste. Dann begannen die Eisfelder zu schrumpfen. Je weiter das Wasser versiegte, desto näher zogen die Menschen an die Berge heran. Als die Sandstürme kamen, lebte hier bereits kaum jemand mehr. Ich weiß noch, wie der Sturm die Stadt freigelegt hat. Die Leute sagten, es sei ein Fingerzeig Gottes, um uns an unsere Identität zu erinnern. Andere behaupteten, es sei ein Werk der Wüstengeister, damit wir hierher zurückkehren würden.«
    Diagonal über dem südlichen Rand des Ruinenfelds, vor einer Mauerbresche in der Nähe des Buddhas, verlief eine letzte, kleinere Düne. Jakli trat aufs Gas. Die Vorderräder des Lasters verließen den Sand, und schlingernd erreichten sie die Geisterstadt Karatschuk.
    Als Shan ausstieg, war er sofort von der Umgebung fasziniert. Sie standen auf einem kleinen Platz. Ringsum erhoben sich die schemenhaften Umrisse einstiger Gebäude, deren Wände aus gebrannten Lehmziegeln in Farbe und Beschaffenheit so sehr dem Sand glichen, daß die gesamte Landschaft wie ein Flickwerk aus unterschiedlichen Braun- und Grautönen aussah. Vereinzelt reckten sich die grotesk verzerrten und komplett verdorrten Überreste früherer Bäume aus dem Boden. In etwa zehn Metern Entfernung war das obere Ende eines Mauerbogens freigelegt worden.
    Jakli ging auf eine Lücke zwischen äußerer Mauer und dem größten und besterhaltenen Gebäude zu, einem dachlosen rechteckigen Haus aus Steinblöcken mit schmalen Fensteröffnungen, die sich beinahe über die gesamte Höhe der Wand erstreckten. Vielleicht eine Soldatenunterkunft, dachte Shan. Er sah niedrigere Mauern, bei denen es sich ehedem um Wohnhäuser gehandelt haben konnte. Daneben ragten in gleichmäßigen Abständen kurze armdicke Stümpfe aus dem Sand, die durch die Jahrhunderte trockener Hitze steinhart gebacken waren. Durstige Reisende hatten sich hier seinerzeit an kostenlosen Pfirsichen laben dürfen.
    Als sie das große Gebäude hinter sich ließen, sah Shan, daß aus der äußeren Mauer die Überreste von Holzbalken nach innen ragten. Sie waren in einer Reihe angeordnet und hatten ursprünglich Dächer gestützt. Die Wände einer der Ruinen waren noch hoch genug, um die Balken in ihrer eigentlichen Position zu halten, so daß man einen Eindruck davon erhielt, wie die Straße vor acht oder neun Jahrhunderten aus gesehen haben mochte. Shan trat vorsichtig in den Eingang des Hauses, zuckte zusammen und wich erschrocken zurück, als ihn plötzlich zwei große Augen anstarrten. Jakli lachte, und er wagte sich wieder ein Stück vor, um das lebensgroße Wandgemälde genauer za betrachten. Obwohl der Putz rissig und großflächig abgebröckelt war, konnte Shan mit einiger Mühe die Gestalt eines Leoparden ausmachen, der offenbar soeben ein kleines braunes Tier gerissen hatte. Die Farben waren fast vollständig verblaßt, und nur die wild blickenden Augen der Raubkatze wirkten noch so lebensecht wie zu dem Zeitpunkt, als jemand sie vor vielen Jahrhunderten an die Mauer gemalt hatte.
    Als Shan sich zum Gehen wandte, ertönte irgendwo in der Nähe ein Geräusch. Es hätte der Schrei eines Tiers sein können. Vielleicht war es auch nur der Wind, der sich zwischen den Ruinen fing. Nach weiteren hundert Schritten gelangten sie auf eine freie Fläche, die einen Kreis seltsam unförmiger Steinsäulen

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