Das Auge von Tibet
beherbergte. Jakli blieb stehen und zeigte darauf. Shan ging etwas näher heran und erkannte Konturen auf der verwitterten Oberfläche, hier eine Hand, dort ein anmutiges Bein. Das hier war ein ehemaliger Skulpturengarten.
Über ein halbes Dutzend steinerner Stufen gelangten sie auf eine kleine Kuppe, die den höchstgelegenen Punkt innerhalb der Mauern darstellte. Der liegende Buddha dominierte die Szenerie hinter ihnen. Die Gestalt wirkte dermaßen entspannt und fügte sich so harmonisch in die hügelige Landschaft ein, daß man glauben konnte, sie würde sich jeden Moment erheben und den Weg ins Kunlun-Gebirge antreten. Im Norden, am anderen Ende des Ruinenfelds und somit mehr als zweihundertfünfzig Meter von ihnen entfernt, stand eine Reihe weiterer Statuen im Sand.
Jakli streckte den Arm in Richtung der Figuren aus. »Die Wächter der Nordseite«, erklärte sie. »Sie stehen oben auf der Stadtmauer.« Dann drehte sie sich ein Stück zur Seite und deutete auf einen Umriß in der Nähe, eine niedrige, langgezogene Düne, die sich über der westlichen Stadtmauer wölbte. Dort schauten der behelmte Kopf eines Kriegers und neben ihm die obere Hälfte einer wie zur Warnung erhobenen Hand aus dem Sand.
Shan mußte unwillkürlich lächeln, denn die Schönheit der alten und geheimnisvollen Stadt flößte ihm eine seltsame Art von Seelenfrieden ein. Er kannte ähnliche Statuen von anderen Ruinen in China und Tibet, doch bislang hatten sie stets die Spuren von Einschüssen oder Sprengladungen getragen, weil sie als Ziele für das Übungsschießen der Armee dienen mußten. Die meisten alten Festungswälle hatte man eingerissen, da sie als Symbole des Imperialismus oder mögliche Rebellenverstecke galten. Die riesigen Nationalbibliotheken, deren Manuskripte zum Teil mehr als zweitausend Jahre in die Vergangenheit reichten, waren im Zuge der Kulturrevolution zerstört worden. Tempel, nicht nur in Tibet, hatte das gleiche Schicksal ereilt. Als Schüler war Shan mit seinen Klassenkameraden per Bus zu einem der alten Kaisergräber verfrachtet worden, um dort dem Prozeß gegen einen Herrscher der Mine-Dynastie beizuwohnen, den die Roten Garden exhumiert hatten. Man verurteilte den Kaiser wegen einer langen Liste von Verbrechen gegen das Volk und verbrannte dann die Leiche samt ihrer Grabbeigaben.
Doch Karatschuk hatte unter dem Sand geschlafen und war dadurch Pekings Zugriff entgangen. Shan hätte sich stundenlang in den Anblick vertiefen können, und er sah Jaklis leuchtenden Augen an, daß sie ebenso empfand. Ihm wurde klar, daß er seine Lebensfreude anscheinend vor allem aus jenen Dingen zog, die von der modernen chinesischen Gesellschaft entweder vergessen oder übersehen worden waren. Die verborgenen Mönche in Tibet. Die alten taoistischen Texte, die sein Vater ihn gelehrt hatte. Die Hand einer antiken Kriegerstatue, die aus dem Sand ragte.
Sie folgten dem weiteren Verlauf des Weges, entfernten sich von der Mauer und stiegen allmählich in Richtung einer großen Senke ab, über der sich ein langer, hoher Felsvorsprung erstreckte, der die Stadt am östlichen Rand begrenzte. Shan blieb stehen, weil ihm unterhalb der Mitte des Vorsprungs ein paar kleine Gebäude auffielen, die sich in einem deutlich besseren Zustand als der Rest der Ruinen befanden. Sie bestanden zwar ebenfalls aus gepreßter Erde und Backsteinen, aber ihre rissigen Wände waren weitgehend noch intakt, und sie verfügten über Dächer aus grauen, in der Sonne getrockneten Ziegeln, auf denen Sand und morsches Holz lagen. Jenseits der Hütten erhob sich ein größeres Bauwerk, das aus einem quadratischen Teil und einem runden Kuppelbau zusammengesetzt war und die Jahrhunderte ebenfalls ohne ernstliche Schäden überstanden zu haben schien. Bei genauerer Betrachtung kam Shan auf einen anderen Gedanken. Vielleicht hatte man das alles listig so wieder aufgebaut, daß es dem flüchtigen oder weit entfernten Beobachter wie ein Teil des Ruinenfelds erscheinen mußte. Hinter dem Kuppelgebäude standen in einem Gehege aus drei an die Felswand grenzenden Steinmauern mehrere langhaarige Pferde von genau jener kurzbeinigen, robusten Art, die einst die Soldaten der Khane quer durch zwei Kontinente getragen hatte. Vor dem großen Bauwerk erkannte Shan einen kleinen Steinring, über dem ein Dreibein aus Holzbalken aufragte. Ein Brunnen.
Er bemerkte, daß Jakli ein Stück abseits stand und ihn unschlüssig musterte. »Ich weiß nicht, was diese Leute tun werden. Akzu
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