Das Babylon-Virus
für den Beginn.«
Der Restaurator nickte. Zumindest brachte der Mann einen Sinn für unkonventionelle Methoden mit. Das war aber auch schon alles. Amadeo hatte Zeit gehabt während der vergangenen zehn Minuten, in denen Styx den commandante in den Aufnahmeraum genötigt und die übrigen Anwesenden - Sessionmusiker offenbar - rausgescheucht hatte. Er hatte Zeit gehabt, sich einen jener Monologe zurechtzulegen, die er seinem verehrten Mentor letztendlich doch niemals halten würde: effektvolle Worte darüber, was einen Experten eigentlich ausmachte, und über die nicht unerheblichen Feinheiten, die einen akademisch gebildeten Musikwissenschaftler von einem Rockkrachi unterschieden.
Oh my Lord! Oh my LO-ho-ho… Styx zog einen rot markierten Kontrollregler ganz nach unten, und der Gesang aus den Boxen verstummte. Amadeo beobachtete, wie die Lippen der beiden Männer im Aufnahmeraum sich weiterhin bewegten, scheinbar stumm.
»Ich bin erfreut, dass Professor Helmbrecht sich meiner entsonnen hat«, sagte Styx. »Ich hätte nicht erwartet, dass ich noch einmal etwas von ihm zu hören kriegen würde.«
Amadeo nickte, um einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck
bemüht. Das hätte er an Stelle des Bassisten auch nicht getan, aber wie die Dinge lagen, war der Kerl nun mal der einzige Musiker, der im Augenblick greifbar war, und die Zeit lief ab.
Amadeo griff nach seiner Aktentasche, zog Händels Brevier hervor und reichte es dem Bassisten. Styx hob überrascht die Augenbrauen, betrachtete das Büchlein aufmerksam von allen Seiten.
Dann schlug er es auf.
»Good god!« Der Musiker wurde blass. »Das ist ein Opus von Händel! Woher haben Sie das gezogen?«
Aus meiner Aktentasche, dachte Amadeo. Direkt vor Ihren Augen. Er wagte sich nicht auszumalen, wo Styx seine Kenntnisse der deutschen Sprache erworben haben mochte. Wohl kaum in einem regulären Sprachkurs wie der Restaurator selbst. Und dass der Musiker wenig Gelegenheit hatte, sich in der Sprache zu drillen, glaubte er ihm aufs Wort. Nicht, dass er im eigentlichen Sinne falsch sprach, nur eben wunderlich. Altertümlich. Wie aus dem neunzehnten Jahrhundert …
»Frappant«, murmelte Styx.
Oder aus dem achtzehnten.
»Wo haben Sie das her?«
Ehrfürchtig, beinahe erschrocken lag der Blick des Bassisten auf dem Brevier. Zumindest konnte dieser Styx ermessen, was er da in der Hand hielt. Oder nein, korrigierte Amadeo sich in Gedanken: Was diese Entdeckung für die Musikwelt bedeutete, konnte er vielleicht erahnen, aber das, worauf es in Wirklichkeit ankam, die Bedeutung für die Menschheit …
»Darüber darf ich nicht sprechen«, sagte Amadeo wahrheitsgemäß. »Wir vermuten, dass diese Komposition…« Er zögerte. »Dass jemandem, der sich eingehend mit Händel
beschäftigt hat, möglicherweise etwas auffallen wird, wenn er sich mit dieser Partitur auseinandersetzt.«
Styx nickte. Seine Augen hatte er schon wieder in dem Büchlein versenkt, blätterte vor, schlug es dann plötzlich zu. »Befremdlich«, murmelte er, wandte sich ruckartig zum Mikrofon um, drückte einen seiner Knöpfe. »Really, really great. Carry on! Even more emphasis! - We’ll be right back.«
Rebeccas commandante schien unmittelbar vor einem herzhaften Biss ins Aufnahmemikrofon zu stehen. Dorian Grave dagegen nickte konzentriert, und für einen Moment glaubte Amadeo ein merkwürdiges Glitzern in den Augen des totenblass geschminkten Sängers wahrzunehmen: einen winzigen Seitenblick auf die rot markierten Regler, die der Bassist auf Null gezogen hatte.
Styx war schon aufgestanden, winkte den Restaurator in den Flur.
Amadeo warf einen letzten Blick durch die Glasscheibe, froh, dass er hier rauskam. Styx war schon absonderlich genug - aber dieser Grave sah aus wie ein lebender Leichnam.
»Die Partitur ist rudimentär lediglich«, murmelte der Bassist. Er hatte eine der Türen geöffnet, die von dem langgestreckten Korridor abgingen, und Amadeo bedeutet, ihm zu folgen. Über eine gewundene Metallkonstruktion - eher eine Feuerleiter als eine echte Treppe - hatten sie die obere Etage der Lagerhalle erreicht. Zu Amadeos Verblüffung bestand sie aus einem einzigen, hellen Raum, dessen deckenhohe Fensterfront auf die Docks hinausging, den Flusslauf der träge dahinströmenden Themse und ein Meer von Häusern am jenseitigen Ufer, das bereits zu Greenwich gehören musste.
Vor den Fenstern aber stand ein Konzertflügel, ein wunderschönes Stück aus dunkel lackiertem Holz, an dem Styx sich
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