Das Babylon-Virus
Kirche nicht antasten?«
Görlitz zögerte - eine halbe Sekunde, länger nicht, dann nickte er knapp. »Einverstanden.«
Die Gestalt der kleinen Dame straffte sich. »Wir wollten sie der Öffentlichkeit zugänglich machen. Eine Ausstellung zum … zum Jubiläum. Sie sind im Gemeindehaus. Direkt … hier auf dem Gelände.« Sie holte Luft. »Ich habe die Schlüssel.«
»Sehr gut.« Zufrieden nickte Görlitz. »Dann werden wir beide uns Ihren Fund jetzt einmal ansehen.« Er wandte sich an seine Männer. »Wenn sich einer von ihnen rührt … oder wenn wir in zehn Minuten nicht zurück sind, fangt ihr an zu schießen. Ich denke …« Grübelnd schweifte sein Blick über Amadeo, den commandante , den bibbernden Bassisten, bevor er sich ganz langsam hob, zum ausdruckslosen Marmorantlitz des ersten Duke of Chandos. »Ich denke, mit ihm fangt ihr am besten an.«
Zehn Minuten. Wie viele von ihnen waren bereits vergangen? Amadeo wagte nicht die geringste Bewegung - nicht einmal, um auf die Uhr zu schauen. Görlitz’ Männer sahen aus, als ob sie seine Anweisungen sehr, sehr ernst nehmen
würden, so wenig bemerkenswert diese Männer sonst auch waren. Dutzendgesichter, dachte Amadeo. Hellhäutige Mitteleuropäer, deren Züge man sich unmöglich hätte einprägen können - wären sie nicht ohnehin zur Hälfte unsichtbar gewesen hinter ihren Atemmasken. Gesichter, die wie geschaffen waren für den Geheimdienst oder wie man Verholens Organisation auch bezeichnen wollte.
Kurz nachdem Görlitz und die alte Dame das Mausoleum verlassen hatten, hatte sich Amadeos Handy gemeldet. Rebecca. Es konnte nur Rebecca sein, niemand sonst hatte seine neue Nummer.
Doch natürlich war es ausgeschlossen, dass er den Ruf entgegennahm. Gespenstisch hallte der Chor der Gefangenen vom kalten Marmor wider, sekundenlang. Gefangene, dachte Amadeo. Gefangene in der Todeszelle. Dieses Mausoleum würde auch zu ihrem Grab werden, sobald Görlitz zurückkehrte. Daran hatte er keinen Zweifel.
Die Minuten krochen dahin. Amadeo wechselte einen Blick mit dem commandante . Duarte wirkte gefasst. Wenn ein Gefühl aus seiner Haltung sprach, so war es Wut, nicht aber Angst. Davon hatte Styx vermutlich genug für sie alle zusammen. Der Bassist stand mehrere Schritte entfernt, im hintersten Winkel der Grabkammer, den Rücken gegen den marmornen Sockel gestützt, auf dem sich die Skulpturen des Duke und seiner Gemahlinnen erhoben, zu kaltem, totem Stein erstarrt: so kalt und tot, wie auch sie selbst es in wenigen Minuten sein würden.
Amadeo wartete, wartete auf die Schritte ihres Henkers.
Sie klangen dynamisch, diese Schritte, als sie sich näherten. Das etwas leisere Trippeln, von dem sie begleitet wurden, bewies, dass Görlitz ihre Führerin nicht gleich an Ort und Stelle liquidiert hatte, worauf sich Amadeo schon halbwegs eingestellt hatte.
»Na, bin ich pünktlich?« Der Mann mit dem Narbengesicht sah auf seine Armbanduhr. »Auf die Minute, möchte ich sagen.«
Amadeo schüttelte sich: Wie konnte ein Mensch auf eine so grauenhafte Weise verändert und gleichzeitig doch genau derselbe geblieben sein? Dieselbe großkotzige Art, die den Restaurator schon bei ihrer letzten Begegnung abgestoßen hatte.
»Bestens.« Görlitz nickte. Mit einer einladenden Handbewegung wies er der alten Frau den Weg durch die Gittertür. Sie war jetzt wirklich eine alte Frau. Der aufgeregte Funke, der noch am Nachmittag in ihren Augen gelegen hatte, war erloschen. »Bestens«, wiederholte Görlitz. Er griff in seine dunkle Stoffjacke und holte einen Umschlag hervor. »Wie es aussieht, waren die Spenden der britischen Bevölkerung tatsächlich hervorragend angelegt, mein lieber Amadeo. Unsere eifrigen Denkmalschützer haben uns eine Menge Arbeit abgenommen. Du wirst überrascht sein, welch hübsches Brieflein hier auf uns gewartet hat.«
Amadeo biss die Zähne zusammen. Hatte er damit gerechnet, dass Görlitz jetzt übergangslos den Befehl zum Feuern geben würde? Nein, ausgeschlossen. Nicht, wenn man Görlitz war. Der Mann mit dem Narbengesicht würde seinen Triumph bis zum Ende auskosten. Amadeo sollte wissen, was ihm vorenthalten blieb. Erst dann würden ihn die Kugeln treffen.
»Sehr interessant«, murmelte Görlitz. »In der Tat.« Er hatte die Lasche des Umschlags geöffnet und eine Reihe von DIN-A4-Blättern in seine Hand gleiten lassen: frisches, weißes, nagelneues Papier.
Ungläubig kniff Amadeo die Augen zusammen: Das konnte unmöglich Händels Vorlage sein!
Weitere Kostenlose Bücher