Das Babylon-Virus
Flieger auf Sicht. Eine Flugsicherung, die diesen Namen verdiente, gab es nicht mehr. Bevor sie vom Rollfeld eines kleinen Privatclubs vor den Toren der Stadt abgehoben hatten, hatte Duarte unterschiedliche Frequenzen durchprobiert. Auf den meisten kamen nur noch automatische Ansagen; in einem einzigen Fall war die Stimme eines Menschen zu hören gewesen, der
ohrenscheinlich unmittelbar vor einem Nervenzusammenbruch stand.
Vielleicht sollte man das, was mit der Welt gerade geschieht, genauso betrachten, überlegte Amadeo: als einen einzigen gigantischen kollektiven Nervenzusammenbruch. Konnte so ein Zusammenbruch nicht auch heilsam sein? Wenn es der menschlichen Spezies irgendwie gelang, zu überleben, würde sie dann womöglich eine Menschheit sein, die eine Spur … besser, nachdenklicher, sorgfältiger wäre? »Nachhaltiger«, murmelte Amadeo. »Ein bisschen mehr wie die alten Babylonier.«
Er griff in seine Jacke. Einer von Ches entschiedenen Vorteilen bestand darin, dass der Vorkriegsflieger über keinerlei empfindliche Mikroelektronik verfügte, die man mit einem popeligen Handytelefonat hätte irritieren können.
Automatisch tippte Amadeo als Erstes die Nummer des Professors ein. Irgendwie war ihm das in den letzten Tagen zur selbstverständlichen Gewohnheit geworden. Zu seinen Lebzeiten , dachte er. Görlitz’ Worte waren ein Bluff gewesen. Er war sich beinahe hundertprozentig sicher.
Beinahe.
» Hinfliegen! Lösen! Anrufen! «
Der Anrufbeantworter. Die Ansage klang nicht anders als am vergangenen Morgen: heiser und ungeduldig, aber keineswegs so, als ob Helmbrechts Ableben unmittelbar bevorstände.
Wenn nicht jemand nachgeholfen hatte, ein alter Hippie im Jeansanzug zum Beispiel. Görlitz war gestern Abend in London gewesen, aber wo steckte Jean-Lucien Verholen selbst? Und wo steckte Helmbrecht?
Der Anruf, bei dem er Amadeo die Adresse des Aufnahmestudios mitgeteilt hatte, war sein letztes Lebenszeichen gewesen - und zum Abschied hatte er dem Restaurator mitgeteilt,
dass er was erledigen wollte. Was hatte ein schwerkranker Paläograph jenseits der achtzig in diesen Zeiten zu erledigen ?
Nein, das gefiel Amadeo nicht, ganz und gar nicht. Und dass der Professor sich nicht zurückmeldete, nachdem Amadeo ihm noch in der Nacht per Mail die Ergebnisse aus Edgware weitergegeben hatte, gefiel ihm noch weniger.
Friedrich II. von Hohenstaufen - Helmbrecht hätte elektrisiert sein müssen bei der bloßen Erwähnung dieses Namens.
Doch das Orakel von Weimar schwieg.
Natürlich war Amadeo in Sorge, mehr denn je, nachdem sich die Sorge um das Leben des Professors in die Sorge um den Fortbestand der menschlichen Spezies verwandelt hatte. Doch aus genau diesem Grunde waren ihm jetzt die Hände gebunden: Er konnte im Moment nichts tun für den Professor. Helmbrecht hatte den ersten Schritt gemacht, indem er sich vorsätzlich mit der Grippe infiziert hatte. Seitdem lag der Ball in Amadeos Feld: Lesen! Lösen! Anrufen! - oder wie auch immer der alte Mann den Spruch variierte. Jeden Tag aufs Neue, während die unterschiedlichen Versionen der babylonischen Überlieferung in Amadeos Kopf verschwammen: immer weiter in eine ferne, nebelhafte Vergangenheit hinein - und noch immer Jahrtausende vom Ursprung der Geschichte entfernt. Wir haben keine Zeit mehr , dachte Amadeo. Und das galt mehr denn je.
Der mürbe Kitt, der sich menschliche Zivilisation schimpfte, hatte Risse bekommen. Risse, die sich in atemberaubender Geschwindigkeit erweiterten, bis der Kitt nun abzuplatzen begann, an einzelnen Stellen zuerst, in Weimar, in London, doch wenn der Anfang einmal gemacht war … Eine kahle, schäbige Wand, dachte Amadeo. Mehr würde nicht übrig bleiben.
Es sei denn, in irgendeinem Regalfach des weltweiten Baumarkts lagerte ein geheimnisvoller Superzement, mit dem man den Kitt wieder in Schuss bekommen konnte. Nur die Fachnummer war generationenlang dermaßen schludrig abgekritzelt worden, dass sie kaum noch zu entziffern war. Und genau das war Amadeos Aufgabe: die Nummer entziffern und Rebecca zum richtigen Fach schicken. Dann konnten die Reparaturarbeiten beginnen.
Rebecca. Als Amadeo am Abend zuvor endlich dazu gekommen war, seinen eigenen Anrufbeantworter abzuhören, war es nach zehn gewesen, in Afghanistan entsprechend irgendwann gegen zwei Uhr nachts. Geheimdienstpräparat hin oder her, Rebecca hatte die Grippe. Und die Verletzung im Oberschenkel. Sie sollte jede Minute Schlaf bekommen, die sie irgendwie kriegen
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