Das Babylon-Virus
Das Brevier des Komponisten war ja selbst schon an die dreihundert Jahre
alt. Und die Führerin hatte vorhin ausdrücklich nicht von Papier , sondern von einem Pergament gesprochen. Aber Görlitz war doch kein Mensch, der sich mit einer Kopie zufriedengab, nur aus Rücksicht auf einen Kirchenverschönerungsverein im hinterletzten Edgware!
»Wirklich hübsch, wie er die Initialbuchstaben gestaltet hat …« Die Augen des Narbengesichtigen glitten über das Papier. »Eine solche Liebe zum Detail, wenn man überlegt, dass das normalerweise wohl kaum zu seinen Aufgaben gehörte.«
»Wessen Aufgaben?« Amadeo hätte sich auf die Zunge beißen können. Um nichts in der Welt gönnte er Görlitz diesen Triumph, doch er konnte einfach nicht anders. Er stand kurz vor dem Platzen vor Anspannung.
Traurig schüttelte Görlitz den Kopf. »Die Details, mein Lieber. Bitte, muss ich die Hoffnung denn wirklich aufgeben, dass du das noch lernst?« Er holte Luft, begann mit konzentrierter Miene vorzulesen. »Nos Fridericus secundus divina favente clementia Romanorum imperator semper augustus, Hierusalem et Sicilie rex …«
Amadeo keuchte. Er konnte es nicht verhindern. »Friedrich II.«, flüsterte er. »Nach dem Walten der göttlichen Gnade Kaiser der Römer und stetiger Mehrer des Reiches, König von Jerusalem und Sizilien. - Frie … Friedrich, mein …« Er wandte sich um zu Duarte, zu Styx, mit einem Mal unsicher auf den Beinen. »Der Mann, den ich …«
Amadeo konnte es nicht in Worte fassen. Was hätte er auch sagen sollen? Ich bin einer seiner größten Fans? Händel hatte mit Sicherheit seine Fans gehabt, und ihr schmalbrüstiger Bassistenbegleiter wurde heute von unzähligen jungen Leuten angehimmelt, genau wie es auch in Amadeos Jugendzeit Bands gegeben hatte, denen seine Schulkameraden heiße Verehrung entgegenbrachten. Doch wenn es für
Amadeo Fanelli aus den Marken jemals einen echten Star gegeben hatte, dann war da nur ein einziger Mensch in Frage gekommen, und der war seit mehr als sieben Jahrhunderten tot: Friedrich II., römisch-deutscher Kaiser, Philosoph, Künstler, Wissenschaftler auf dem Thron. Der erste moderne Mensch der Geschichte, das Wunder der Welt und ihr wunderbarer Verwandler .
»Der Antichrist auf dem Kaiserthron«, bemerkte der commandante . »Wenn wir den papsttreuen Chronisten glauben dürfen.«
»Er war modern«, wisperte Amadeo. »Seiner Zeit um Jahrhunderte voraus. Und er …« Unvermittelt musste er an sein Gespräch mit Gianna denken. Drei Tage erst war das her. Die Leute, denen der Kaiser den Bauch hatte aufschneiden lassen, um ihre Verdauung zu prüfen. Die Kinder, die er hatte aufziehen lassen, ohne ihnen das Sprechen beizubringen. »Seine Experimente sind natürlich fragwürdig, aber dieser Mann war …« Er stockte. »Ein Genie«, flüsterte er. »Der größte Geist seiner Zeit.«
»So sieht es aus, mein Lieber«, sagte Görlitz fröhlich. »Und jetzt bist du überrascht, dass er mit dabei ist in unserer Ahnenreihe? - In meiner Ahnenreihe natürlich«, verbesserte er sich.
Amadeo starrte ihn an. Friedrich II., sein ganz persönliches historisches Idol. Die Spur der babylonischen Fragmente hatte ihn von Einstein zu Goethe, von Goethe zu Händel und nun von Händel zu Friedrich II. geführt. Und nun …
»Schließen Sie die Tür!«, sagte Görlitz mit kalter Stimme und nickte einem seiner Männer zu. Der Bewaffnete gehorchte. Einer seiner Kumpane half ihm und brachte gleichzeitig einen Gegenstand zum Vorschein. - Ein Bündel mit Kabelbindern. Mit wenigen Handgriffen hatten die Männer die Gittertür versiegelt.
»Tja.« Auf Görlitz’ entstellten Zügen breitete sich ein Lächeln aus, bei dem Amadeo übel wurde. Doch er würde den Blick nicht abwenden. Zumindest diesen Sieg sollte der Schweinehund nicht haben.
Sein einstiger Kollege kam auf die Gitterstäbe zu, den Lauf seiner Waffe auf Amadeo gerichtet, die Fotokopien noch immer in der Hand, während er den Umschlag wieder in seiner Jacke verstaut hatte.
»Dann ist es wohl an der Zeit, sich zu verabschieden, mein Lieber.«
Amadeos Kehle wollte zerspringen, doch mit Mühe presste er ein Wort hervor: »Bitte!«, knurrte er. »Bitte, wenn du mich … Aber lass wenigstens die anderen … Mr Styx - Stevie - und …« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht einmal, wie die Dame heißt ! Sie sind nicht gefährlich für dich. Sie haben dir nichts getan. Sie sind …«
Eine blitzartige Bewegung. »Hier!«
Amadeo starrte auf die
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