Das Babylon-Virus
…« Der Oberst brach ab. Ein überraschtes Zucken ging über sein Gesicht, der Ausdruck veränderte sich. »Nein«, sagte er sehr viel leiser. »Wir sind ein reiner Defensivverband. Aber wie kann …«
»Eine Falle«, murmelte Rebecca. »Heckenschützen! Jemand, der nicht zu uns gehört. Der …«
Ein neuer Knall, und diesmal kam sofort ein zweiter hinterher.
Rebecca spähte hinauf zu den Männern am Hang. Die beiden Jüngeren hatten den Alten in die Mitte genommen. Sie sahen nicht aus, als ob sie im Augenblick unter Feuer standen.
Doch unten in der Talsohle: Einer der Spähwagen - der Beifahrer fuhr plötzlich in die Höhe, griff sich an die Brust, kippte wie in Zeitlupe vornüber.
Und es folgten weitere Schüsse. Schüsse - auf die ISAF-Soldaten! Eine neue Salve. Ein unterdrückter Laut wie ein »Uff!«.
Zwei Meter entfernt: Der Soldat an der Hecklafette hatte den Mund geöffnet, starrte auf seine Brust, auf der sich ein dunkler Fleck ausbreitete.
»Runter!«
Etwas packte Rebecca an der Schulter. Sie war nicht darauf vorbereitet, hatte sich nur locker auf dem Rand der Luke abgestützt, halb auf Zehenspitzen. Sie versuchte sich festzuhalten, doch ihre Füße glitten weg; schmerzhaft schlug ihre Schulter gegen die Öffnung. Im nächsten Moment lag Rebecca halb betäubt im Transportraum, blickte aus vierzig Zentimetern Entfernung in das Gesicht eines Soldaten, dem sie im Fallen den Ellenbogen in den Bauch gerammt hatte.
»Verdammt, das ist ein Hinterhalt!« Alyssa war bereits an der Kommandantenluke, packte nach Merthes, um das Manöver, das ihr bei Rebecca geglückt war, mit dem Oberst zu wiederholen. »Kommen Sie auf der Stelle …«
Merthes folgte ihr freiwillig. Hasserfüllt starrte er sie an: »Na, zufrieden? Das ist Krieg. Was wollen Sie noch von mir? Ich denke, ich bin …«
»Ihre Suspendierung ist suspendiert«, sagte sie kühl.
»Alyssa Steinmann«, murmelte Rebecca lautlos. »Du bist das coolste Stück Scheiße auf Gottes Erdboden.«
Das Geräusch der Schüsse hielt an. Der Schüsse - des Schuss wechsels . Doch auf wen feuerten die ISAF-Soldaten?
Rebecca hastete nach vorn, zur Frontscheibe. Die Männer am Berg: Einer der beiden versuchte den Alten mit seinem Leib zu schützen, doch in ebendiesem Augenblick sackte er in sich zusammen.
»Verflucht!« Merthes reagierte sofort. Der richtige Mann am richtigen Platz - eben doch. Schon hatte er sein Funkgerät
in der Hand. »Kommandeur an Verband! Feuer einstellen, sofort! Ich wiederhole! Stellen Sie sofort das Feuer ein!«
Rebecca konnte nicht beurteilen, ob die Anweisungen durchdrangen. Der Schusswechsel ging weiter - wer gegen wen, ließ sich nicht sagen. Die Aufständischen … sie mussten längst erkannt haben, was geschehen war. Nein, innerlich schüttelte sie den Kopf. Sie konnten es eben nicht erkennen. Der ISAF-Verband feuerte auf ihr Begrüßungskommando. Was sollten sie anderes tun, als das Feuer zu erwidern?
Ganz langsam ließ Merthes sein Funkgerät sinken. Es hatte keinen Sinn mehr. Es war zu spät.
Der Oberst war blass wie eine Leiche. Mit leerem Blick sah er auf den reglosen Körper des Soldaten, den seine Kameraden von der Hecklafette geborgen hatten.
»Primäre Waffensysteme bereit machen«, sagte er tonlos. »Und packen Sie die MILAN aus. - Wir müssen hier raus, so lange noch Zeit ist.«
Castel del Monte, Puglia, Italien
Amadeos Finger fuhren über die raue Oberfläche der breccia rossa , des geheimnisvoll leuchtenden, rötlichen Steins, mit dem der Portikus des Kastells verkleidet war.
Der Eingangsraum lag im Halbdunkel. Schmale Bahnen aus Licht fielen in das trapezförmige Innere, und geisterhaft hallte gedämpftes Gemurmel von den Wänden wider. Die Gruppe um Görlitz oder andere, ältere Stimmen? Ein Echo einer Vergangenheit, die an diesem Ort eine winzige Spur weniger vergangen war als anderswo. Die auf geheimnisvolle Weise gegenwärtig erschien, als wäre das Mittelalter niemals wirklich zu Ende gegangen in den Mauern von Castel del Monte.
»Verwirrend. Rätselhaft.« Amadeo stellte fest, dass er flüsterte. Die Geister der Hohenstaufen, dachte er. Wer in den Marken aufgewachsen war, wusste, dass man Geister nicht stören durfte. Er wies nach rechts. »Sehen Sie dort? Das ist die einzige Tür, durch die es von hier aus weitergeht. Erst im Nebenraum führt ein zweites Portal in den Innenhof. Umständlich und unerklärlich. Ganz untypisch für eine mittelalterliche Burganlage. Eigentlich müsste man einfach …«
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