Das Babylon-Virus
Waffe zog. Sollte er ihn daran hindern? Schaden konnte die Waffe nicht, doch Görlitz hatte in London ein halbes Dutzend Gestalten dabeigehabt. Seine Männer würden ihnen auf jeden Fall überlegen sein, wenn es …
Es war Görlitz.
Die entstellende Glatze hatte er mit einer Baseballkappe bedeckt, doch wesentlich hübscher machte ihn auch das nicht. Er lümmelte auf einer vorgelagerten Böschung und blickte den beiden Männern aufmerksam entgegen. Seine Gorillas hatten ein paar Schritte hinter ihm Stellung bezogen.
»Sieht nicht gut aus, euer Flieger«, sagte der Mann mit dem Narbengesicht zur Begrüßung. Beiläufig nickte er über Amadeos Schulter hinweg.
»Wir kriegen ihn wieder flott«, erwiderte Duarte lakonisch.
Görlitz hob eine Augenbraue, was die Asymmetrie seines Gesichts noch zusätzlich betonte. Seine Züge lagen im Schatten unter dem Schirm der Mütze - Amadeo war dankbar dafür.
»Und?«, erkundigte sich Görlitz. »Habt ihr’s?«
Amadeo fuhr sich über die Lippen, schüttelte stumm den Kopf. Habt ihr’s? Das konnte nur bedeuten, dass sein einstiger Kollege die Lage des Depots ebenfalls noch nicht kannte. Unsicher glitt Amadeos Blick über die Phalanx seiner Totschläger. Görlitz war schneller gewesen - doch er machte keine Anstalten, irgendwelche Schießbefehle zu geben.
»Dann sind wir offenbar gleichauf«, stellte der Narbengesichtige fest. »Besonders verzwickt war es ja auch nicht bisher.« Nachdenklich betrachtete er die Fassade. »Acht«, murmelte er. »Symmetrisch und präzise. Klar und eindeutig. Natürlich, eine gewisse … Härte gehört dazu, wenn es um große Dinge geht. Aber einer muss eben das Sagen haben. Ich denke, der Mann liegt mir. Irgendwie …« Er löste sich von der Mauer und trat einige Schritte auf das Bauwerk zu. »Doch, ich denke, ich spüre eine geistige Verwandtschaft. Ein Mann, der wusste, was er will.«
»Er wollte nur seine Ruhe«, brummte Amadeo. »Seinen Frieden mit der Kirche, damit er seinen wissenschaftlichen Forschungen nachgehen konnte. Er war fähig zur Rücksicht, zur Diplomatie. Fähig, Kompromisse zu schließen.«
Duarte schien ganz leicht eine Augenbraue zu heben. Nachvollziehbar, nachdem Amadeo ihm gerade noch Vorträge über den egomanischen Willen des Kaisers gehalten
hatte. Doch Friedrich war eben kein eindimensionaler Mensch gewesen, sondern ein Kind seiner Zeit - und doch weit über diese Zeit hinausweisend in seinem Denken. Auf jeden Fall war er nicht wie Görlitz gewesen. Amadeo weigerte sich, das zu glauben.
»Ah, Kompromisse.« Görlitz nickte. »Doch, ich denke, ich verstehe. Diese berühmte Geschichte, als er Moses und Jesus und Mohammed als die drei größten Betrüger der Geschichte bezeichnet hat. Vermutlich hat er da exakt einen Augenblick abgepasst, als weder Juden noch Christen noch Muslime anwesend waren - weil er ja so fürchterlich diplomatisch war. Gut, man könnte fragen, wer die Geschichte dann überliefert hat, denn eins von den dreien dürfte ja so ziemlich jeder gewesen sein, mit dem er zu tun hatte. Trotzdem: interessanter Kompromiss, wirklich sehr … wie sagt man noch? … kompromittierend?«
»Die Geschichte ist überhaupt nicht bewiesen!«, knurrte Amadeo. »Das war nichts als Propaganda des Heiligen Stuhls. Die Päpste hatten schon immer die niederträchtigsten Kreaturen in ihrem …« Unvermittelt spürte er, dass Duartes Blick sehr aufmerksam auf ihm ruhte. »Umfeld«, murmelte der Restaurator und fügte übergangslos an: »Wie gut, dass sich das heute geändert hat.«
»Ah!« Görlitz tippte sich mit zwei Fingern an die Stirn, als ob ihm gerade ein Licht aufginge. »Dann denkst du an diesen Brief, den berühmten Brief, den er an seine Geburtsstadt richtete, die passenderweise ja auch noch Iesi hieß: › So bist du nicht die kleinste unter unseres Geschlechtes Städten; denn aus dir ist der Herr entsprungen, des römischen Reiches Fürst, der über dein Volk herrsche. ‹ - Sie erkennen die Stelle wieder, verehrter commandante ?«, wandte er sich an Duarte.
»Matthäus fünf, Vers sechs«, murmelte der Mann in der
Soutane. »› Und du, Bethlehem im jüdischen Lande, bist keineswegs die kleinste unter den Städten in Juda; denn aus dir wird kommen der Fürst, der mein Volk Israel weiden soll.‹ «
»Exakt.« Görlitz nickte. »Stimmt, Amadeo, ein hübscher Kompromiss. Jedenfalls hat er sich nicht expressis verbis als Messias betitelt, genau wie er diese noble Hütte hier nicht ausdrücklich als
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