Das Babylon-Virus
Bewegung zu erkennen: schemenhafte Gestalten, die im Gestein umherhuschten, nach einer Position suchten, aus der sie die Reste des Konvois unter Feuer nehmen konnten.
»Weiter!«, brüllte der Oberst heiser. Merthes hatte selbst einen Treffer abbekommen - oder vielleicht war es gar nicht sein eigenes Blut, das von den Schultern bis zur Hüfte seinen Kampfanzug verklebte. Auf Händen und Knien zog er sich einen Felsenkamin empor. Matter Stahl glänzte auf seinem Rücken. Er hatte sich den kurzen, stämmigen Lauf der MILAN-Waffe zwischen die Schultern geschnallt.
Hundert Meter vom Leitpanzer entfernt sollten die Männer sich sammeln, das war seine Anweisung gewesen. Rebecca konnte nicht erkennen, ob aus den anderen Fahrzeugen überhaupt jemand entkommen war. Der Fuchs, der als Erster getroffen worden war, brannte noch immer lichterloh, zwei der Jeeps ebenfalls, aber trotzdem lag nach wie vor ein Brummen und Dröhnen in der Luft. Ein Teil des ISAF-Zuges war weiterhin in Bewegung, versuchte durchzubrechen.
Sie haben keine Chance, dachte Rebecca. Genauso wenig wie wir selbst.
Verholen hatte gewonnen; nur er konnte hinter dem heimtückischen Angriff stecken. Was auch immer sein Plan war - über die Absicht, Rebecca und ihre Verbündeten auszuschalten, hinaus: Niemand konnte ihn mehr daran hindern,
diesen Plan in die Tat umzusetzen. Höchstens die Aufständischen selbst.
Dies war ihr Land, seit Jahrhunderten. Es hatte unterschiedliche Namen getragen, genau wie sie selbst, als Stamm, als Volk. Doch sie kannten jeden verfluchten Kieselstein hier.
Die raue Oberfläche des Felsenkamins war kühl unter Rebeccas Fingern, als sie sich in den Schatten nach oben zog, erschöpft innehielt, nachdem sie die steilste Stelle überwunden hatte. »Und was haben Sie jetzt vor?«, wandte sie sich an die uniformierte Gestalt, neben der sie zu stehen kam. War es überhaupt Merthes?
Die Gestalt schnaubte in ein verdrecktes Taschentuch, tupfte sich die Glatze ab. Richtig geraten, dachte Rebecca.
»Wir werden uns absetzen«, erklärte der Oberst. »Mit allem, was zu uns durchbrechen kann. - Sie sehen fürchterlich aus.«
»Ich hörte davon. - Sie wissen genau, was passieren wird. Die Afghanen werden am Pass auf uns warten …« Rebecca ahnte seinen Einwand, ließ ihn nicht zu Wort kommen - und wunderte sich selbst, woher sie plötzlich die Kraft nahm. »… und wenn wir den Pass umgehen, werden sie uns in der offenen Wüste abfangen, irgendwo zwischen hier und dem Camp. Oder ist Hilfe aus Masar unterwegs?«
Merthes betrachtete sie mit seinem stahläugigen Silberblick - von oben herab, wie es ihr vorkam, denn er stand tatsächlich zwei Schritte höher als sie. Rebecca spürte Wut in sich aufsteigen, doch sie war froh darüber, weil sie den Schwindel aus ihrem Schädel verdrängte, dafür sorgte, dass sie zumindest mit einem Auge wieder einigermaßen klar sehen konnte, Merthes’ Miene lesen konnte, in der möglicherweise sogar eine Spur Anerkennung zu entdecken war.
»Wir wissen nicht, was im Camp geschehen ist«, sagte er
schließlich, und während er weitersprach, lösten seine Augen sich schon wieder von ihr und suchten zwischen den Felsen. Er nickte. Also doch Überlebende, dachte Rebecca. Männer aus den anderen Fahrzeugen, die sich die zerklüftete Anhöhe emporkämpften.
»Und das bedeutet, dass wir vom Schlimmsten ausgehen müssen«, fuhr der Oberst fort. »Wir haben gestern einen Angriff erlebt, den ich mir in meinen schlimmsten Albträumen nicht hätte ausmalen können. Was hier gerade geschieht, übertrifft diesen Angriff noch. Und wir müssen damit rechnen, dass sie das alles noch einmal übertreffen. Wir müssen damit rechnen …« Inzwischen hatte sich eine Traube von Menschen um sie gebildet. Fünfzehn, zwanzig Soldaten, die meisten von ihnen verletzt, fast alle im einen oder anderen Stadium der Grippe. Alyssa stand neben ihrer Schwester, halb hinter ihr. Bisher verfolgte sie das Gespräch zwischen dem Oberst und Rebecca ohne jeden Kommentar.
»Wir müssen damit rechnen«, sagte Merthes, »dass im Camp niemand mehr am Leben ist. Also werden wir uns über die Berge durchschlagen, zur Straße nach Pol-e Khomri, zu den Italienern … oder nach Baghran, da sind schon die Amerikaner.«
»Warum nicht gleich nach Kabul?«, murmelte Alyssa.
»Wenn es sein muss, auch nach Kabul«, erwiderte der Oberst und sah einen Moment lang Alyssa, dann die Wildnis der Felsen an, mit einem Blick, der fast schon auszureichen schien, um eine
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