Das Babylon-Virus
ihnen.
»Das gefällt mir nicht«, murmelte der Oberst.
Genau dieselben Worte hatte er an diesem Tag schon einmal gebraucht, erinnerte sich Rebecca. Gegen Mittag, als sie kurz hinter dem Ali-Baba-Pass die ersten Aufständischen gesichtet hatten, wie sie hoch an den Flanken der Berge mit ihren Spiegeln Nachrichten weitergaben. Der Konvoi bewege sich genau in die Richtung, die die Rebellen im Sinn hätten, hatte Merthes gebrummt.
War es ausgeschlossen, dass das noch immer so war?
Es ergibt keinen Sinn, dachte Rebecca. Wenn sie uns in die Falle locken wollten, warum haben sie dann Parlamentäre geschickt? Und nun, da sie glauben müssen, wir hätten ihre Parlamentäre getötet … Nun hätten sie weiß Gott allen Grund, uns in die Falle zu locken.
Aber das hier war die Falle. Mit noch so viel Fantasie: Einen strategisch günstigeren Ort konnte sie sich nicht vorstellen.
Steil führte der Pfad abwärts, tauchte immer tiefer zwischen die Felsen, im engen Bogen um die Wand mit den Schriftzeichen herum, bis er hinter dem blutfarbenen Gestein außer Sicht verschwand.
Der Oberst brummte etwas, das Rebecca nicht verstand. Mit einem Ächzen wuchtete er die MILAN-Waffe von seinen Schultern.
»Was haben Sie vor, Herr Oberst?« Es war der Junge mit den Sommersprossen, der sich an Rebecca vorbeischob. »Wenn Sie das Ding hier unten abfeuern …«
»Dann bleibt keiner von uns am Leben«, knurrte der Kommandeur. »Genauso wenig wie irgendwelche von diesen Hundesöhnen, falls sie unvermutet auftauchen. Und von ihrem Grafitti, das ihnen offenbar so wichtig ist.«
Er nickte abweisend, schnitt die Frage des Jungen ab, was es mit dem Grafitti auf sich hatte.
Mit düsterer Miene machte der Oberst den ersten Schritt in den Pass, die MILAN vorangerichtet wie die Panzerfaust, die sie letztendlich war, allerdings mit einer ungleich größeren Zerstörungskraft als ihre Urahnen im Zweiten Weltkrieg.
Der zusammengewürfelte Trupp folgte ihm in langer, weit auseinandergezogener Reihe. Gebannt starrte Rebecca auf die aufragenden Felswände, bildete sich Bewegung ein, wo keine war. Für die Spiegelkommunikation der Aufständischen war es schon zu dunkel, doch wenn sie hier irgendwo lauerten, hatten sie die auch nicht mehr nötig.
Die Inschrift in der Wand. Was hätte Amadeo dafür gegeben, hier sein zu können, grübelte Rebecca. Wie lange war es her, dass sie auf dem Flugplatz in Practica di Mare voneinander Abschied genommen hatten? Sechsunddreißig Stunden - oder ein halbes Leben?
Was würde ich dafür geben, jetzt seine Stimme zu hören, dachte sie. Ihr Mundwinkel zuckte, als sie sich an Alyssas Blick erinnerte, in Amadeos Büro in der officina : Das ist dein Freund?
Wie sollte sie ihrer Schwester erklären, was Amadeo ihr bedeutete? Aber wer weiß, vielleicht … Was Alyssa ihr über Fabio erzählt hatte: War es undenkbar, dass Alyssa verstehen würde …?
Merthes stieß ein Geräusch aus.
Zwei Schritte, dann war Rebecca bei ihm, verharrte wie angewurzelt, Alyssa an ihrer Seite.
Direkt hinter der Felswand hatte die Schlucht einen scharfen Knick beschrieben, um sich wenige Meter darauf noch einmal in die entgegengesetzte Richtung zu wenden, in eine Höhlung im Felsen hinein, durch die von der anderen Seite her schon wieder Licht schimmerte. Und dort …
Tief unter ihnen lag eine weite, nahezu ebene Fläche, umgeben von zerklüfteten, fernen Hängen. Der Himmel war von einem seltsamen Gewölk bedeckt, das in Farben schimmerte, die irgendwie unwirklich waren, nicht echt, nicht natürlichen Ursprungs sein konnten. Wolken, die sich zu rasch, zu ungleichmäßig bewegten für Wolken . Die aus sich selbst heraus zu leuchten schienen in ihren unirdischen Tönungen, als wäre das Ganze …
»Das ist nicht der Himmel«, hauchte Rebecca. »Das ist …«
»Eine Höhle.« Alyssas Stimme war kaum hörbar. »Eine gigantische, unglaubliche, beleuchtete Höhle.«
Beleuchtet durch Lichtfrequenzen, die der Himmel niemals hätte hervorbringen können. Am Boden der Senke fielen sie auf ein Labyrinth aus Felsen, nein, aus Mauern, aufgetürmt von Menschenhand. Zwischen den Mauern Wege, die hin und her führten in einem Muster, das chaotisch war und doch auf eine fremdartige Weise gegliedert. Es riss den Blick nach vorne, in die Ferne, über die weite Fläche des Labyrinths hinweg auf einen mächtigen Torbogen zu, in dem der Weg verschwand. Dahinter war schemenhaft ein dunkler Umriss zu erkennen - ein Gebäude, vielleicht.
War es derselbe Weg,
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