Das Babylon-Virus
geblieben in Sachen Literatur. Wahrscheinlich werden die Mauern alle paar Jahrhunderte neu verputzt, und dann machen sie gleich ein Update auf ihre Tafeln und suchen sich ein paar neue Texte aus.«
»Stimmt«, murmelte Alyssa. »Das auch. Aber sie beobachten uns jetzt . Und hier .«
Rebecca zuckte hoch. »Sie sind …«
»270 Grad«, sagte der Oberst mit ruhiger Stimme. »Von meiner Blickrichtung aus. Der andere ist ungefähr gegenüber von ihm, etwas tiefer am Felsen.«
»Beweg dich langsam«, zischte Alyssa. »Wir wissen nicht, ob sie nicht Feldstecher haben.«
Rebecca gehorchte, reckte sich demonstrativ, strich sich die Haare aus der Stirn und drehte sich langsam im Kreis. 270 Grad, rechts von Merthes also. Noch immer erfüllten die aufblitzenden Lichter das Höhlengewölbe, doch dieses Licht war anders, schwächer als die Blitze. Dafür kam es immer von derselben Stelle - und es hielt länger an. Mal eine Sekunde, mal zwei oder drei.
»Wie machen sie das?«, murmelte Rebecca. »Draußen haben sie mit ihren Spiegeln die Reflexion des Sonnenlichts eingefangen, aber hier?«
»Kein Sonnenlicht«, sagte Alyssa. »Keine Spiegel. Halogenstrahler, würde ich sagen. So viel zu dem Ort in der Tiefe, den zu betreten verboten ist. Verboten nicht für sie, offenbar.«
No, I don’t have a gun! No, I don’t have a gun!
Schon hatte Rebecca ihr Handy am Ohr. »Professor?«
»Nein, ich bin vom Mitteldeutschen Rundfunk. Wenn Sie sich mit ›Ich höre Onkel Arnos Schlagerparade‹ gemeldet hätten, hätten Sie einen Besuch im Funkhaus gewonnen, Kännchen Kaffee gratis. - Natürlich bin ich’s. Wen hatten Sie erwartet?«
Rebecca hörte sofort, dass die Stimme des alten Mannes verändert klang.
»Sie können den Text diesmal nicht lesen?«, fragte sie ahnungsvoll.
Das war ein Schlag in die Magengrube. Damit hatte sie nicht gerechnet, nicht diesmal. Die Inschrift war sogar besonders kurz gewesen.
»Liebe Frau Steinmann, ich lese demotisch wie Sie Ihre Schulfibel aus der dritten Klasse! Selbst wenn es so ein Geschmiere ist!« Helmbrecht machte eine Pause. »Es muss nur ein Geschmiere sein, das einen Sinn ergibt. Shakespeare-Geschmiere. Nibelungenlied-Geschmiere. Kamasutra-Geschmiere.
Aber kein: Leider falsch abgebogen. - Frechheit! Sie sind nicht falsch abgebogen! Es ging rechts beim letzten Mal! Ich hab ja wohl das Kamasutra noch im Kopf! Ich …«
Helmbrecht brach ab. Ein Gemurmel im Hintergrund, das Rebecca nicht verstehen konnte. Alyssa sah sie fragend an, genauso der Oberst.
Ein Knistern, dann war der Professor wieder am Apparat. »Sie können sich nicht vorstellen, wie eifersüchtig diese Frau ist«, wisperte er. »Ich soll mich nicht mit fremden Damen über das Kamasutra unterhalten.« Vernehmlich stieß er den Atem aus. »Jedenfalls lasse ich meine Intelligenz nicht von irgendwelchen dahergelaufenen Babyloniern beleidigen. Sie sind nicht falsch abgebogen!«
» Leider falsch abgebogen ?«, fragte Rebecca. »Das steht auf der Tafel?«
»So ungefähr.« Der Professor zögerte. »Nicht auf Deutsch. Auf Italienisch.«
»Auf …« Rebecca konnte so schnell nicht umschalten. »Äh. Deviato …«
» Hai perso per la strada «, fiel Helmbrecht ihr ins Wort. »Geht’s deutlicher? Du hast den Weg verloren. Ich weiß, was Sie sagen wollen!«, fügte er ohne Atem zu holen an.
Da weiß er mehr als ich, dachte Rebecca.
»Nein, das ist etwas anderes als die Stellen, mit denen wir es bisher zu tun hatten. Kein Zitat. Weder Dante noch Petrarca noch Boccaccio haben in irgendeiner ihrer Schriften diesen Satz benutzt. Nicht mal Carlo Goldoni. Literarische Relevanz scheidet damit aus. Mir ist kein Text bekannt, in dem diese Worte stehen.«
Und wenn es einer war, den er nicht kannte? Helmbrecht war empfindlich. Wie sollte sie ihm das taktvoll nahebringen? Doch der Professor ließ sie gar nicht zu Wort kommen.
»Lassen Sie sich nicht verrückt machen!«, mahnte er. »Sie
haben den Weg nicht verloren. Wenn Sie ihn verloren hätten, wären Sie jetzt tot. Sind Sie tot? Nein. Wir müssen einfach nur herausfinden, was dieser schlechte Scherz zu bedeuten hat. Was wissen wir schon über den babylonischen Humor? Na? Kommt ein Mann in die Oase … - Sehen Sie? Jetzt schauen Sie sich erst mal um! Gibt es irgendwo noch eine zweite Tafel? Gibt es irgendwo …«
Alyssas Haltung veränderte sich. Sie legte den Kopf auf die Seite. Merthes warf ihr einen Blick zu, und im selben Moment sah Rebecca, dass auch er sich anspannte.
»Was ist
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