Das Babylon-Virus
in der Ewigen Stadt ihr Leben beschlossen, einmal solche Dimensionen annehmen würde? Wie viele der wohlhabenden Reisenden, die an der Schwelle zum Erwachsenenalter ihre Kavalierstour nach Italien unternahmen, hatten schon Ernst gemacht mit dem Rom sehen und sterben ? Mit der Zeit waren es einfach mehr und mehr geworden - mehr Besucher und entsprechend auch mehr Leichen -, und natürlich hatte sich jeder ein besonders idyllisches Plätzchen gewünscht für die letzte Ruhe. Für Planmäßigkeit war da kein Platz gewesen.
In geschwungener Linie durchzogen Marmorbalustraden das unübersichtliche Gelände, immergrüne Hecken, schwarz im Licht des abnehmenden Mondes, der hin und wieder durch das Laubwerk der Bäume sichtbar wurde.
Der schmale Lichtstrahl von Rebeccas Taschenlampe huschte umher, fing Ausschnitte von Grabmälern ein, unsymmetrische Steine und welche von klassischem Ebenmaß, menschengroße Engelsskulpturen aus knochenweißem Marmor, die mächtigen Flügel in trauernder Geste gesenkt. Ein sachter Windhauch bewegte die Zweige der Bäume. Sie schienen das einzig Lebendige zu sein an diesem Ort des Todes.
Immer wieder wanderte Amadeos Blick nervös in die Dunkelheit. Der cimitero hatte eine eigene Security, doch das Gelände war riesig, und bisher war keine Menschenseele zu sehen. Er unterdrückte ein unruhiges Kichern. Seelen gab es hier mehr als genug, wenn man daran glaubte, dass die Toten eine besondere Verbindung zu der Stätte hielten, an der ihre sterblichen Leiber ruhten.
»Schon irgendwie strange .«
Er zuckte zusammen. Rebecca hatte ganz leise gesprochen, doch ihrer Verletzung zum Trotz ging sie mit einer katzengleichen Lautlosigkeit an seiner Seite. An das Schniefen
hin und wieder hatte er sich fast schon gewöhnt. Beinahe hatte er vergessen, dass er hier nicht der einzige lebende Mensch war.
»Was ist strange?«, flüsterte er.
»Goethe«, murmelte sie. Die Taschenlampe wanderte nach links, beleuchtete kurz ein kleines Gebäude, das an einen griechischen Tempel erinnerte. »Ich meine, er zwingt uns, das Grab seines eigenen Sohnes aufzubrechen! Das ist doch nicht gesund!«
»Na ja«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Erst mal wissen wir noch gar nicht, ob wir’s wirklich aufbrechen müssen, das Grab. Vielleicht gibt es ja irgendwo ein Versteck, im Stein oder …« Er schüttelte den Kopf. »Jedenfalls heißt es im Gedicht nicht in Goethes Sohnes kühlem Grab , sondern einfach nur Goethes Sohnes kühles Grab .«
Amadeo hielt inne. Nein, das glaubte er selbst nicht. Aus irgendeinem Grunde war er sich sicher, dass genau das von ihnen erwartet wurde: Goethe hatte ihnen aufgetragen, das Grab seines Sohnes zu schänden.
»Außerdem hatte der alte Goethe ein besonderes Verhältnis zum Tod«, sagte er schließlich. »Er war sich gar nicht so sicher, ob er selbst überhaupt sterben konnte .«
Der Lichtstrahl verharrte. »Durchgeknallt. Ich sag’s doch.«
»Zumindest ziemlich von sich überzeugt«, schränkte Amadeo ein. »Er war halt ein Genie - da sollte das Universum drauf verzichten können? Im schlimmsten Fall müsste es ihm halt einen Ersatzkörper zuweisen.«
»Ah ja. - Und? Fühlst du dich manchmal ein bisschen wie Goethe?«
»Wenn überhaupt, dann ist er Helmbrecht«, brummte Amadeo. »Genauso ist der Mann drauf gewesen. Wie er mit Eckermann umgegangen ist und dann die Sache mit Schillers Schädel …«
»Schillers …« Rebecca brach ab. »Ich glaube nicht, dass ich das wissen will.«
»Moment«, flüsterte Amadeo. Aus dem Augenwinkel hatte er etwas gesehen, kaum auszumachen in den unterschiedlichen Schattierungen der Finsternis, doch plötzlich war eine verschüttete Erinnerung zum Vorschein gekommen an den Tag seines Besuchs auf dem cimitero: Eine amerikanische Touristin hatte Zeter und Mordio geschrien, dass irgendein drittklassiges Monument, das sie unbedingt vor die Linse bekommen wollte, ausgerechnet jetzt im Schatten läge. Amadeo hatte die Gelegenheit genutzt, um einen Moment lang in Ruhe vor dem Grab des August von Goethe zu verharren.
»Leuchte mal nach rechts«, bat er Rebecca.
Sie gehorchte, und der Restaurator nickte erleichtert.
Da war es: eine Art Türmchen in der Umfassungsmauer, wieder von Zinnen gekrönt. Das war der unwillkommene Schatten gewesen, über den die Frau sich aufgeregt hatte.
Langsam drehte Amadeo sich um, bis er mit dem Rücken zur Mauer stand. »Hier muss es irgendwo sein«, sagte er leise.
Rom, Via Oddone
»Glaub mir, das ist echt nichts
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