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Das Babylon-Virus

Das Babylon-Virus

Titel: Das Babylon-Virus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan M. Rother
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Mensch, nein, aber nicht ansatzweise in der Lage, die hochgesteckten Erwartungen seines Vaters zu erfüllen. Niemand, der nicht selbst ein Genie war, wäre dazu in der Lage gewesen. Früh gealtert, dem Alkohol und der Ausschweifung ergeben - was man für Ausschweifung hielt in der Biedermeierzeit -, hatte das ungewohnte Klima Roms ihm den Rest gegeben. Hier, zu ihren Füßen, hatte er schließlich die ewige Ruhe gefunden. Ewig … ein großes Wort, wenn man den Mann gerade ausgraben wollte.
    »Sah seinem Vater sogar ähnlich«, bemerkte Rebecca mit Blick auf das Medaillon. »Dieselbe Nase.«
    »Wer weiß, wer da wirklich Modell gesessen hat«, grübelte Amadeo.
    Nachdenklich blickte Rebecca auf den Stein. »Irgendwie seltsam, dass er die Leiche nicht mit nach Hause genommen hat, nach Deutschland.«
    »Der alte Goethe?« Amadeo schüttelte den Kopf. »Klar, der war auch in Rom - die berühmte Italienische Reise -, aber das war mehr als vierzig Jahre vorher. Als sein Sohn nach Italien losgezogen ist, war Goethe schon uralt. Er selbst hat Rom nie wiedergesehen.«
    Rebeccas Augenbrauen zogen sich zusammen. In einer Reflexion des Lichts konnte Amadeo es deutlich erkennen. »Und woher zur Hölle wusste er dann, wo sein Geheimnis gelandet ist? Dass sein Sohn in Rom sterben würde, hat er doch kaum ahnen können, oder?«
    »Nein«, sagte Amadeo leise. »Ich habe keinen Schimmer, ehrlich gesagt.«
    »Nun …« Der Lichtstrahl senkte sich auf das Gewirr immergrüner Ranken. »Vielleicht werden wir es ja gleich herausfinden.« Sie drückte Amadeo die Lampe in die Hand.
Mit einem unterdrückten Ächzen ließ sie den Rucksack zu Boden gleiten, ging in die Knie und begann die efeuumwucherte Umrandung des Grabes abzutasten. Amadeo selbst versuchte sein Glück auf der anderen Seite, eher halbherzig. Nein, er wusste, worauf es hinauslaufen würde. Auch der Grabstein: ein einziger nach oben hin abgerundeter Marmorblock auf einem Fundament aus demselben Material. Amadeos Finger fuhren über die Fuge. Nein, da war nichts. Kein Hinweis auf ein Geheimfach, einen verborgenen Mechanismus - was auch immer. Wie hätte Goethe das auch anstellen sollen? Hatte Amadeo nicht gerade selbst einen Vortrag gehalten, dass der steinalte Dichter gar nicht dabei gewesen war, als August starb? Das Depot durch irgendwelche Mittelsmänner in der Nähe der Grabstätte verstecken zu lassen, das wäre eine Gleichung mit zu vielen Unbekannten gewesen. Darauf hätte Goethe sich nicht eingelassen. Aber seinen Sohn drauf zu drillen, das Geheimnis im Fall der Fälle mit ins Grab zu nehmen - das traute Amadeo dem Alten ohne Weiteres zu. Plan B, dachte er. Wahrscheinlich hatte August das Depot ursprünglich irgendwo anders verstecken sollen, war aber nicht mehr dazu gekommen, bedingt durch sein Ableben. Ja, das ergab einen Sinn. Goethe hatte sein Babylon-Gedicht erst kurz vor seinem eigenen Tod niedergeschrieben und aus der Not eine Tugend gemacht. Kein Zweifel: Seines Sohnes Grab war nichts anderes als ein monströser Plan B.
    Ächzend richtete Amadeo sich auf. »Hier ist nichts«, murmelte er. »Aber ich frag mich immer mehr …«
    »Du fragst dich schon den ganzen Abend«, sagte Rebecca und lockerte ihre Schultern. »Und bisher ist nichts passiert. Hilf mir lieber mit dem Rankzeug - das lenkt ab.«
    Wieder einmal hatte sie recht. Amadeo war schon mitten in der Arbeit, rupfte das Gesträuch innerhalb der steinernen
Einfassung beiseite, als ihm bewusst wurde, dass er völlig darüber hinweggekommen war, weiter zu grübeln. Es war seltsam: Vielleicht war es der Duft der frischen Erde, aber er musste plötzlich an seine Familie denken, an den Winzerhof am Rande der Marken, den jetzt seine Schwester und sein Schwager Ruggiero bewirtschafteten. Es gab Tage, an denen ihm das alles fürchterlich fehlte, die Arbeit an den Rebstöcken, die Abende im Anschluss an die Weinlese, wenn man jeden einzelnen Knochen im Leibe spürte. Schon manches Mal hatte er sich vorgestellt, eines Tages, wenn er alt und grau war, in das kleine Dorf zurückzukehren. Wer weiß, womöglich zusammen mit Rebecca, die sich jetzt aufrichtete, auf den Grabstein nebenan gestützt, der das antikisierende Relief eines nackten Kriegers zeigte. Sie reckte sich, wobei unter ihrem geöffneten Blazer ein schmaler Streifen aufregend blasser Haut sichtbar wurde. Welch ein Anblick: die Fleisch gewordene Göttin des Wein- und Gartenbaus.
    »Bin ich froh, dass wir in Trastevere nur ein paar Balkonpflanzen haben«,

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