Das Babylon-Virus
Cestio. Die Straße wurde von Flutlichtern gnadenlos erhellt, und mit ihr die rötlich verputzte Mauer um den Protestantischen Friedhof auf der anderen Straßenseite. Seit einer gefühlten Viertelstunde hockten sie nun in ihrem Versteck. Amadeo hatte nicht auf die Uhr gesehen, Rebecca dagegen tat das andauernd - als ob sie auf etwas wartete. Dabei machte es keinen Unterschied: Um zwanzig nach zehn war ihr Unternehmen derselbe Wahnsinn wie um zehn nach zehn. Da spielte es auch keine große Rolle, dass die kleine Seitenstraße um diese Uhrzeit mehr oder weniger verlassen war. Die ganze Zeit über waren drei
Autos vorbeigekommen, alle vom Park und der Porta San Paolo her. Jedes Mal hatte Amadeo den Atem angehalten, doch niemand hatte von ihnen Notiz genommen.
»Denkst du, im Moment hat überhaupt jemand ein Auge darauf, ob einer versucht, auf den Friedhof zu klettern?« Rebeccas Stimme war ein Flüstern. »Das hier ist Rom«, wisperte er zurück. »Da sind die Toten wichtiger als die Lebenden. Garantiert gibt es an der Mauer eine elektronische Sicherung. Wenn im Moment niemand zu sehen ist, heißt das gar nichts. Die sind in zwei Minuten da, wenn wir was anstellen, wetten?«
»Ich denke, wir werden es herausfinden«, murmelte Rebecca. Sie löste sich aus der Deckung und ging in aller Seelenruhe auf die Mauer zu.
»Was soll das?«, zischte Amadeo. Mit drei Schritten war er an ihrer Seite. »Du willst hier einfach so rüber?«
»Gibt es eine Stelle, an der das unauffälliger geht?«
Der Restaurator zögerte. »An der Rückseite gibt es ein paar Büsche. Aber da ist viel mehr Verkehr, auch um diese Zeit. Außerdem ist die Mauer da höher.«
»Na also.« Sie sah an dem verputzten Gemäuer empor, das von Zinnen gekrönt wurde wie eine mittelalterliche Befestigung. Wenn man sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte man zwischen ihnen hindurchspähen, was im Moment aber wenig Sinn hatte. Die Pforten des Friedhofs hatten sich vor fünf oder sechs Stunden geschlossen, und auf dem Gelände war es stockfinster.
»Vielleicht könnte einer von uns sie irgendwie ablenken«, wisperte Amadeo. »An einer anderen Stelle. Dann gibt es Alarm, alles läuft hin, und der andere klettert währenddessen hier rüber.«
»Und wer wär der eine?«, fragte sie neugierig. »Wer der andere?«
Amadeo biss sich auf die Lippen. Ein Verhör bei der polizia wegen versuchter Störung der Totenruhe oder allein über einen nächtlichen Friedhof irren, um Goethes Sohn auszugraben. Attraktive Wahlmöglichkeiten.
»Oder wir probieren es doch zusammen«, überlegte er laut.
»Mach mir eine Räuberleiter«, sagte sie. »Aber pass auf mein Bein auf.«
Amadeo sah sich über die Schulter um. Die Straße schlängelte sich in weitem Bogen um das unübersichtliche Gelände der Cestiuspyramide. Rebecca und er würden die Streifenwagen hören, bevor die Beamten sie beide sehen konnten. Zeit genug, um zu verschwinden? Die Flutlichter erhellten die gesamte Umgebung, doch gegenüber, zu Füßen eines hohen Flachdachgebäudes, hatte irgendein Unternehmen seinen Fuhrpark abgestellt. Möglichkeiten zum Verstecken gab es. Wenn sie Glück hatten und schnell genug waren.
Er verschränkte die Hände ineinander und gab Rebecca Hilfestellung. Eine Sekunde später spürte er das Profil ihrer Dockers, einen kurzen Ruck, und schon zog sie sich auf die Mauerkrone hoch.
Amadeo hielt den Atem an, lauschte. Nichts zu hören.
»Gib mir den Rucksack!«, wisperte Rebecca.
»Warte noch einen Moment«, bat er leise. »Vielleicht ist es ein stummer Alarm.«
»Dann ist er trotzdem seit zwei Minuten deaktiviert«, zischte sie. »Ich hab vorhin mit Duarte telefoniert, während du dein Mittagsschläfchen gehalten hast. Er kennt jemanden bei den römischen Stadtwerken.«
»Dua…« Ihm blieb die Spucke weg. »Und das machen die mit?«
»Das hier ist Rom«, zitierte Rebecca. »Da sind die Toten wichtiger als die Lebenden. - Er hat ihnen erzählt, es
geht um Reliquien. Irgendwelche Knochen, die der Vatikan unbedingt haben will. Was Heiliges auf jeden Fall, und sie wollen’s nicht an die große Glocke hängen.«
»Reliquien? Auf einem protestantischen Friedhof? Was denkst du, warum der überhaupt bewacht werden muss, der Friedhof? Im neunzehnten Jahrhundert hat die katholische Bevölkerung die Särge noch mit Unrat beworfen auf dem Weg zum Begräbnis.«
»Na, siehst du? Damit ist auch klar, warum’s geheim bleiben soll mit den Knochen. - Gib mir jetzt den Rucksack!«
Mit einem
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