Das Babylon-Virus
halbstündigen Monolog gehalten über Albert Einsteins Engagement für den Weltfrieden, sein einzigartiges Wissen um die Atomtheorie? Über die Geheimdienste in Ost und West, die den alternden Physiker misstrauisch beäugt hatten: Einstein - und seinen Briefwechsel? Ob Einsteins Schreiben an Helmbrecht nun mit Geheimdiensten zu tun gehabt hatte oder nicht: Wie groß war die Wahrscheinlichkeit gewesen, dass sie es nicht abgefangen hatten? Abgefangen - und kopiert.
Doch erklärte das wirklich alles? Amadeos Stimme klang belegt. »Aber wenn Sie die ganze Zeit wussten, was dieser Text bedeutet und wie wichtig er ist, warum haben Sie dann nicht längst …«
»Das wussten sie nicht«, sagte Rebecca. »Das wissen sie erst seit ein paar Wochen.« Ihr Blick fixierte ihre Schwester. »Seit Anfang Oktober, richtig? Nachdem der Professor angefangen hat, die Archäologen in Al-Hillah mit seinen Anrufen zu malträtieren.«
»Wenn du das sagst.« Ein Ausdruck, den Amadeo nicht recht einordnen konnte, blitzte über Alyssas Gesicht: eine Mischung aus Zynismus, Amüsement und widerwilliger Anerkennung. »Unsere Leute haben das Ausgrabungscamp
sehr genau im Auge, und wenn jemand sich auffällig für bestimmte Dinge interessiert, für Ausfälle wegen der Grippe . Nun, du kennst das Verfahren: eine Datenbankabfrage in den Archiven. - Ingolf Helmbrecht …« Ihre Finger mit den blutrot lackierten Nägeln deuteten Tippbewegungen auf einer unsichtbaren Tastatur an. »Und schon hatten sie Einsteins Geschichte auf dem Desktop, um die sich fünfzig Jahre lang kein Mensch gekümmert hatte - mit allem, was dazugehört: Finden Sie die Lösung und handeln Sie danach. Wenn Ihnen das bis zu Ihrem Tode nicht gelingt, geben Sie diesen Text weiter an denjenigen, den Sie für den - nach Ihnen - größten Geist Ihrer Zeit halten. Nachdem sie Ihren Professor ein wenig unter die Lupe genommen hatten, war nicht schwer zu erraten, wen er sich aussuchen würde.«
Amadeos Hirn schien im Innern seines Schädels zu rotieren. Nein, da hatten sie nicht lange rätseln müssen. Also hatten sie auch ihn durchleuchtet, genau wie Helmbrecht. Und zu ihrer Überraschung hatten sie festgestellt, dass er mit Rebecca zusammen war, die selbst für einen Geheimdienst tätig war, den Geheimdienst Seiner Heiligkeit - und hatten ihm daraufhin Rebeccas eigene Schwester auf den Hals gehetzt. Monströs.
Aber nicht das war es, was ihm den Atem verschlug. Amadeo spürte, wie sein Mund sich ganz langsam öffnete. »Das Ausgrabungscamp ?«, krächzte er. »Ihre Leute haben das Ausgrabungscamp im Auge?«
Alyssa musste ihm keine Antwort geben. Ihr Blick, der Rebeccas Blick so ähnlich war, genügte.
Sie wussten es! Warum observierte der deutsche Geheimdienst eine archäologische Ausgrabungsstätte in Mesopotamien? Die Geheimdienste der westlichen Welt und mit Sicherheit auch ihre Regierungen hatten die ganze Zeit gewusst, woher die vermeintliche Eastcoast-Grippe in Wahrheit
stammte: aus den Ruinen des antiken Babylon. Und nachdem sie Einsteins Geschichte gelesen hatten, konnten sie sich auch ausrechnen, warum die Krankheit gerade dort ihren Anfang genommen hatte.
Und die Welt hatte nichts davon erfahren. Er hatte nichts davon erfahren. Sollten Geheimdienste nicht für die Menschen in ihren Ländern arbeiten? Die Geheimdienste der westlichen Welt für die Menschen der westlichen Welt? War Amadeo Fanelli aus den Marken nicht selbst ein Teil der westlichen Welt? Bisher war er davon überzeugt gewesen.
Von einer Sekunde zur anderen kam eine derartige Wut über ihn, dass ihm beinahe die Luft wegblieb. »Sie arbeiten für mich !« , schnauzte er die Frau an seinem Schreibtisch an. »Ist Ihnen das überhaupt klar?«
Wieder hob Alyssa eine Augenbraue, schaute kurz zu Rebecca. Einen seltsamen Geschmack hast du. Dieses eine Mal war ihr Gesichtsausdruck sehr deutlich zu lesen.
»Warum haben Sie mich nicht einfach gefragt?«, knurrte Amadeo. »Warum haben Sie mich nicht einfach nach allem gefragt?«
Alyssa fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, doch Rebecca kam ihr zuvor: »So funktioniert Geheimdienstarbeit nicht. Das Geheime am Geheimdienst besteht darin, dass sie alles über dich wissen, du aber nichts über sie. Nicht mal, dass es sie gibt. Normalerweise.«
Amadeo lag eine scharfe Antwort auf der Zunge, doch er bremste sich. Agenten kannte er eher aus dem Kino - von Rebecca und ihren Kontaktleuten mal abgesehen -, aber dass man in diesem Geschäft nicht unnötig Informationen
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