Das Band der Wünsche: Roman (German Edition)
brachen einem das Herz, aber wenn sie einen verließen, heilte die Wunde irgendwann. Doch Nathan hatte ihr das halbe Herz herausgerissen, und Tia fürchtete, sie würde bis an ihr Lebensende nach der fehlenden Hälfte suchen. Sie würde nie vor ihm in Sicherheit sein. Falls es einen Impfstoff dagegen gäbe, würde sie ihn sich sofort spritzen lassen.
Sie hielt den Bagel vom Tisch weg, damit keine Krümel auf die Fotos fielen. Jetzt, mit fünf, wirkte ihre Tochter um Jahre älter als mit vier, dachte Tia. Andererseits, wie wollte sie das beurteilen? Mit Kindern kannte sie sich nicht besonders gut aus.
Alles, was ihre Mutter ihr vorhergesagt hatte für den Fall, dass sie Honor weggab, war eingetroffen.
Bei dem Gedanken gab sie noch einen Schuss Whiskey in ihren Kaffee.
Ihre Mutter war nur wenige Tage vor Honors Geburt gestorben. Tia hatte Nathan an dem Tag zum letzten Mal gesehen, als sie ihm eröffnet hatte, dass sie schwanger war. Das Gefühl des Verlusts wurde von Jahr zu Jahr schlimmer, und an diesem Tag konnte Tia an nichts anderes denken als daran, wie unglaublich dumm es gewesen war, nicht auf ihre Mutter zu hören, und wie sehr sie sich wünschte, sie könnte ihrer Mutter sagen, wie leid es ihr tat, dass sie ihr nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte.
Als Tia am Montagmorgen in ihr Büro kam, riss sie die Fenster auf, obwohl sie wusste, dass ihre Kollegin Katie sich die Strickjacke unterm Kinn zuhalten und Tia anstarren würde, als arbeitete sie in der Antarktis. Aber Tia wollte unbedingt die ersten Frühlingslüfte hereinlassen.
In der Seniorenberatungsstelle in Jamaica Plain, wo Tia arbeitete, waren angenehme Düfte eine Seltenheit. Hoffnung gab es auch nicht gerade im Überfluss. Jeden Tag kämpfte Tia erneut darum, sich nicht von der Trübseligkeit ihrer Klienten anstecken zu lassen. Das Beste, was sie ihnen zu bieten hatte, waren ihre jugendliche Energie und Unbeschwertheit, aber wenn sie nicht aufpasste, so fürchtete sie, würde sie sich über kurz oder lang in eine neunundzwanzigjährige Seniorin verwandeln, die sich stöhnend aus ihrem Sessel erhob und vor lauter Selbstmitleid einen krummen Rücken bekam. Vielleicht hatte Katie dasselbe Problem: Sie war erst sechsunddreißig, aber sie zitterte schon, wenn die Temperatur unter einundzwanzig Grad sank.
Katie kam bibbernd ins Büro. »Brrr.«
»Soll ich die Heizung andrehen?« Tia konnte auf Katies Leidensmiene gut verzichten.
»Lass nur, es geht schon.« Katie gebärdete sich, als käme sie gerade aus einem Schneesturm. »Was hast du am Wochenende gemacht?«
»Nichts Besonderes.« Tia schloss das Fenster.
»Also, wir sind mit den Kindern nach Cape Cod gefahren.« Katie seufzte, als würde sie ihre Wochenenden normalerweise damit verbringen, für Habitat for Humanity Hütten zu bauen.
Tia wusste, wie sie Katie glücklich machen konnte. »Du hattest eine Verschnaufpause verdient«, sagte sie und setzte sich an ihren ramponierten Metallschreibtisch.
»Danke, dass du die Nachrichten für mich aufgeschrieben hast.« Katie schüttelte sich und nahm das rosafarbene Blatt Papier entgegen, das Tia ihr reichte. Sie waren gleichberechtigt an ihrem Arbeitsplatz, beide als Beraterinnen für Senioren tätig, aber Katie, die einen Master in Sozialarbeit hatte, ließ stets durchblicken, dass sie sich Tia überlegen fühlte, die lediglich einen Bachelor in Psychologie aufzuweisen hatte. Gegen ihr palastartiges Haus in Beacon Hill war Tias Einzimmer-Apartment in Jamaica Plain ein Witz. Katie bedankte sich für die Unterstützung, als wäre Tia ihre Sekretärin.
»Wer ist das denn?« Katie zog das glänzende Foto aus Tias abgegriffenem Adressbuch.
»Das Kind von meiner Kusine.« Tia wollte ihr das Foto wegnehmen, aber Katie hielt es fest.
»Süßer Fratz«, sagte sie. »Hübsche Augen. Ziemlich pummelig.«
Tia riss Katie das Foto aus der Hand. »Pummelig? Sie ist doch noch ein kleines Mädchen.«
»Fettleibigkeit ist ein Riesenthema. Ich wette, du hast dir noch nie Gedanken über Fettpolster gemacht, so dünn wie du bist. Genau wie ich.« Sie tätschelte ihre Hüften. »Aber bei meinen Kindern pass ich auf wie ein Luchs. Jerry hat einige Dicke in der Verwandtschaft. Das liegt wohl bei denen in der Familie.«
Tia presste die Lippen aufeinander und warf das Foto in den Papierkorb, ängstlich darauf bedacht, Katie von dem Thema abzulenken.
»Was machst du denn da?« Katie sprang auf, als wollte sie das Foto retten.
»Ich hab viel zu viel Krempel auf meinem
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