Das Band der Wünsche: Roman (German Edition)
Tattoos, seiner zerschlissenen Jacke und der Schuhe ohne Schnürsenkel – was für seltsame Insignien von Männlichkeit – entschied sie sich für ihn anstatt für die junge Frau, die auf der anderen Seite saß, denn auch wenn der alte Mann an die neunzig sein mochte, würde er es wahrscheinlich nicht akzeptieren, wenn eine Frau ihm ihren Platz anbot. Der Junge beachtete sie nicht. Tia stieß mit dem Fuß gegen seinen Schuh. Mit weit aufgerissenen Augen schaute sie ihn an und deutete mit einer Kopfbewegung auf das alte Paar.
»Äh, wollen Sie sich setzen?«, fragte er den alten Mann, während er widerstrebend aufstand.
Die alte Frau tätschelte dem Jungen den Arm, auf den ein Skorpion tätowiert war. »Was für gute Manieren. Deine Mutter wäre stolz auf dich.« Als er ein schiefes Grinsen aufsetzte, wirkte er wie ein kleiner Junge, und als er dem alten Mann auf seinen Platz half, zwinkerte die alte Frau Tia zu.
Eine ganze Reihe Leute standen auf, als der Bus sich Green Street näherte. Tia betrachtete die Schaufenster an der Straße, während sie eine Haltestelle früher als gewöhnlich aus dem Bus stieg. Sie steuerte den Geschenkeladen an.
Zu Hause goss Tia Milch in eine Schale mit Cheerios. Sie aß im Stehen und schaute sich auf dem kleinen Fernseher auf der Anrichte Jeopardy! an, während sie gleichzeitig das Geschirr vom Vortag wegräumte. Nachdem sie ihre Cheerios aufgegessen hatte, stellte sie die leere Schale in die volle Spülmaschine. Dann wischte sie die Anrichte ab.
Sie suchte die Fotos von Honor zusammen und legte sie auf einen Stapel.
Dann nahm sie das Fotoalbum, das sie eben gekauft hatte, aus der Einkaufstüte. Es war in rauen Dekostoff gebunden. Tia kramte einen silbernen Kugelschreiber, der ihrer Mutter gehört hatte, aus der Schreibtischschublade und probierte auf einem Blatt Papier aus, ob er funktionierte. »Geburtsname: Honor Adagio Soros«, schrieb sie in Schönschrift, wie sie es in der katholischen Grundschule gelernt hatte. Darunter schrieb sie: »Adoptivname: Savannah Hollister Fitzgerald.« Das weiche elfenbeinfarbene Papier saugte die kobaltblaue Tinte auf.
Unter den Namen ihrer Tochter schrieb sie »Vater: Nathan Isaac Soros« und »Mutter: Tia Genevieve Adagio«. Auf die erste Seite klebte sie ein Foto, das Nathan und sie in einem Park mit Selbstauslöser aufgenommen hatten. Dazu hatten sie Nathans Kamera auf einen Stein gestellt. Nathan schaute mit einem schiefen Grinsen in die Kamera; ihr eigenes glückliches Lächeln, das sie immer für Nathan aufgesetzt hatte, wirkte auf traurige Weise tapfer, fand Tia.
Unter das Foto von sich und Nathan klebte sie das einzige Foto aus ihrer Schwangerschaft, das sie besaß. Ihre Mutter hatte es wenige Wochen vor ihrem Tod aufgenommen und ihr eingeschärft, es als Erinnerung aufzuheben. Die Spätnachmittagssonne beleuchtete Tias dicken Bauch, während ihr Gesicht im Schatten lag.
Das Ultraschallbild, das sie aufgehoben hatte – weiße Strudel auf grauem Hintergrund –, klebte sie unter den Schnappschuss von ihrem Bauch und daneben das im Krankenhaus aufgenommene Foto von der neugeborenen Honor, deren Gesicht noch ganz zerknittert war. Hätte Tia sich Caroline und Peter mehr verbunden gefühlt, hätte sie ihnen das Foto damals vielleicht geschenkt, aber schließlich hatte sie ihnen Honor überlassen, und das war wahrlich mehr als genug gewesen.
Tia fürchtete sich jetzt schon vor dem Tag, an dem Honor sie fragen würde, warum sie sie fortgegeben hatte. Die Wahrheit konnte sie ihr unmöglich sagen: Wenn sie ihre Tochter behalten hätte, hätte diese sie für immer an Nathan gebunden, ihr das Recht gegeben, ihn anzurufen und ihn zu treffen. Dann wäre sie nie von ihm losgekommen. Tag für Tag hätte sie jedes Mal, wenn sie Honor anschaute, an Nathan denken müssen – der mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen zusammenlebte. Sie wollte ihre Sehnsucht nicht auf ihre Tochter übertragen. Sie wollte nicht mitansehen müssen, wie ihre Tochter sich nach ihrem Vater verzehrte, so wie sie selbst es jahrelang getan hatte und immer noch tat.
Als sie vier Monate zusammen waren, hatte Tia den Wunsch verspürt, einmal zu sehen, wie Nathan früher ausgesehen hatte. »Zeig mir doch mal ein paar Fotos von dir als Kind«, hatte sie gesagt, »und als Jugendlicher und aus der Zeit, als du Anfang zwanzig warst.«
Irgendwann, nachdem sie ihn immer wieder vergeblich darauf angesprochen hatte, hatte sie sich damit abgefunden, dass er ihr den Wunsch nicht
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