Das Band der Wünsche: Roman (German Edition)
Honor darin einkleben. Noch an diesem Abend würde sie anfangen, sich auf Honors achtzehnten Geburtstag vorzubereiten, den Tag, an dem sie ihre Tochter kennenlernen würde.
Bevor die Adoption rechtskräftig geworden war, hatte sie sichergestellt, dass Honor das Recht hatte, zu ihr Kontakt aufzunehmen, sobald sie volljährig war. Sie hatte gehofft, dadurch den Schmerz über den Verlust ihrer Tochter lindern zu können, und sei es auch nur ein ganz klein wenig. Es handelte sich nur teilweise um eine offene Adoption, insofern würde es also bis auf die Fotos, die Caroline ihr jedes Jahr schickte, keinen Kontakt zwischen ihr und der Familie geben. Aber zumindest würde Honor mit achtzehn selbst entscheiden können, ob sie mit Tia Kontakt aufnehmen wollte.
Den Kopf an das trübe Busfenster gelehnt, versuchte Tia sich vorzustellen, wie Honors Leben derzeit aussah. Die Eltern ihrer Tochter – Dr. Caroline und Software-Experte Peter – fuhren wahrscheinlich gerade von ihrer Arbeit nach Hause in ihr weißes, von immergrünen Bäumen umgebenes Haus. Tia sah das Haus jedes Jahr auf den Fotos. Sie stellte sich vor, wie eine gutbezahlte Kinderfrau, die sicherlich mehr verdiente als sie, aus einem Buch vorlas, während Honor auf ihrem Schoß saß und sich an sie kuschelte. Oder vielleicht war Caroline ja auch schon zu Hause, und Honor kuschelte sich an ihre Mutter.
Ob sie wohl hin und wieder über Tia redeten? So wie sie Caroline und Peter einschätzte, würden sie ihrem Adoptivkind frühzeitig die Wahrheit sagen und jede Menge Bücher zum Thema Wir-haben-dich-ausgesucht-weil-du-etwas-ganz-Besonderes-bist im Regal stehen haben, Bücher, in denen Tia immer wieder blätterte, wenn sie in der Bibliothek war.
Der Bus fuhr am Harvest-Coop vorbei, wo Tia einkaufte, seit sie von South Boston nach Jamaica Plain gezogen war. In dem kleinen Lebensmittelladen fühlte Tia sich wesentlich wohler als in den eiskalt klimatisierten Regalschluchten des riesigen Supermarkts, wo sie immer viel mehr kaufte, als sie je essen konnte.
Ihre alte Freundin Robin meinte, sie bräuchte unbedingt noch etwas anderes in ihrem Leben als ihre alten Leute und Fianna’s Bar in Southie. Sie lag Tia in den Ohren, sie solle sie doch mal in San Francisco besuchen. Jedes Mal sagte Tia ja, ja, aber sie wussten beide, dass die wahre Antwort nein, nein lautete. Tia war noch nie geflogen, eins ihrer diversen gut gehüteten Geheimnisse, die nur Robin kannte. Allein bei der Vorstellung, ein Flugzeug zu betreten, drehte sich Tia der Magen um.
Robin und Tia waren als Nachbarskinder aufgewachsen. Sie beide liebten South Boston und waren dennoch froh, dem Viertel entkommen zu sein, eine Gemeinsamkeit, die sie noch fester zusammenschweißte. Der Unterschied zwischen ihnen bestand darin, dass es Tia immer wieder in ihr altes Viertel zog, während Robin nichts mehr nach Boston zurückbringen würde, seit sie sich als Lesbe geoutet hatte.
Die Extreme, die Southie hervorbrachte, machten den Charakter des Viertels aus. Als Kind war es Tia so vorgekommen, als hätten alle Leute in ihrer näheren Umgebung sieben Kinder, von denen zwei auf tragische Weise ums Leben kamen – entweder durch Drogenmissbrauch oder Selbstmord –, und dennoch war das Viertel, das reichlich Geheimnisse und Gangster hervorbrachte, geprägt von Loyalität und Hilfsbereitschaft unter den Bewohnern. Tia würde keinen Ort auf der Welt finden, wo sie sich derart auf ihre Nachbarn verlassen konnte wie in Southie. Wenn sie Honor nicht weggegeben hätte, hätte ihre Tochter mittlerweile mindestens zwanzig ehrenamtliche Tanten und Onkel. Niemand in Southie würde verstehen, wie sie ihre Tochter hatte zur Adoption freigeben können.
In Jamaica Plain dagegen würden die Leute volles Verständnis für ihre Entscheidung haben, aber Tia wusste nicht so recht, ob sie das als gutes oder als schlechtes Zeichen betrachten sollte.
Ein älteres Paar stieg mühsam in den Bus, die Frau auf eine Gehhilfe gestützt. Eine übergewichtige Frau, die sich auf dem für Behinderte reservierten Platz breitgemacht hatte, tat so, als würde sie die beiden Alten nicht sehen.
Tia stand auf und berührte die alte Frau an der Schulter. »Bitte, setzen Sie sich, Ma’am.«
Die Frau lächelte sie erleichtert an. »Vielen Dank, junge Frau.«
Ihr Begleiter, der so geübt war in seinen Handgriffen, dass er nur ihr Mann sein konnte, stützte sie am Ellbogen. Tia schaute den jungen Burschen an, neben dem sie gesessen hatte. Trotz seiner
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