Das Band der Wünsche: Roman (German Edition)
Schreibtisch.« Tias Magen verkrampfte sich, als das Foto im Papierkorb landete.
Ihre Tochter wohnte nur etwas über dreißig Kilometer entfernt im Vorort Dover, aber es kam ihr vor, als lägen Millionen Kilometer zwischen ihnen. Millionen von Dollar und Millionen von Chancen, die Tia Honor eigentlich von Herzen gönnen sollte. Ihre Tochter würde mit Privilegien aufwachsen, die sie selbst nie gekannt hatte. Kneipen und nicht Parklandschaften hatten South Boston charakterisiert, ein größtenteils irisches Viertel, in dem Tia als exotisch galt, weil die italienischen Gene ihres Vaters sich mit denen ihrer irischstämmigen Mutter gemischt und ihr eine blasse Haut und fast schwarzes Haar beschert hatten. Ihre Mutter hatte sich jedes Mal bekreuzigt und dabei Ermahnungen gemurmelt, wenn sie an einer Kneipe vorbeikamen, die Tias Vater vor seinem Verschwinden frequentiert hatte.
»Von diesen Kerlen solltest du dich lieber fernhalten«, sagte sie dann mit einer Kinnbewegung in Richtung einer Gruppe von Jungs, die an der Ecke herumlungerten. »Such dir einen Juden. Das sind die besten Ehemänner.« Aus den Reden ihrer Mutter sprach die Scham – Scham darüber, dass ihr Mann Frau und Tochter hatte sitzen lassen, und vielleicht auch Scham darüber, dass sie mit ihrem Urteil ihr geliebtes Viertel – »Southie« – schlechtmachte. Sie war sich wie eine Verräterin vorgekommen, als sie dem alltäglichen Antisemitismus von South Boston den Rücken gekehrt hatte. Sie war dort aufgewachsen, hatte ihre Tochter dort großgezogen, aber gearbeitet hatte sie an der Brandeis University – an der »Juden-Uni«, wie sie von vielen in South Boston genannt wurde. Tias Mutter hatte mit diesem »Unsinn«, wie sie es nannte, nichts zu tun, aber sie hatte ihre loyalen Nachbarn zu sehr gemocht, um sie zur Rechenschaft zu ziehen.
Vielleicht gab der Jude Nathan einen guten jüdischen Ehemann ab für seine Frau, die Halbjüdin war – eins der wenigen Details, das er je über seine Gattin-von-der-man-unter-keinen-Umständen-sprach preisgegeben hatte. Wenn man einen guten Ehemann daran erkennen konnte, wie panisch er reagierte, wenn die Geliebte übers Heiraten sprach, dann musste Nathan ein absoluter Mustergatte sein.
Katie beugte sich vor, griff nach Tias Papierkorb.
Tia hielt ihn fest. »Was machst du da?«
»Ich will den Müll rausbringen. Devin kommt erst in drei Tagen wieder.«
Das Senior Advocate Center konnte sich nur einmal pro Woche eine Putzkraft leisten. Katie zog an dem Papierkorb, aber Tia ließ nicht locker. »Ich mache ihn selbst leer«, sagte sie.
»Meinetwegen«, sagte Katie. »Aber denk dran, dass heute die Müllabfuhr kommt.«
Bei der Vorstellung, dass Bananenschalen und Apfelgehäuse auf Honors Gesicht fallen könnten, geriet Tia in Panik. Sie nahm das Foto aus dem Papierkorb und drückte es an ihr T-Shirt, als müsste sie es trockenreiben.
»Was machst du denn da?« Katie wich zurück, als hätte Tia ihr eine Bakterienbombe entgegengeschleudert.
»Ein Kinderfoto wegzuwerfen, bringt Unglück. Wusstest du das nicht?«
Acht Stunden später stieg Tia in den Bus. Die Dunkelheit drückte auf ihre Stimmung, obwohl eigentlich nichts Unangenehmes vorgefallen war. Im Gegenteil, die Mühen des vergangenen Monats hatten heute reichlich Früchte getragen, als sie von Tür zu Tür gegangen war und die Geschäftsleute um kleine Spenden für ihre Klienten gebeten hatte. Neuerdings hatte sie »Glücklichsein« auf die Wunschliste für ihre Klienten gesetzt – ein bisschen Glück, und sei es nur für einen Nachmittag. Am Mittag hatte sie ein paar alte Leute zum Mittagessen ins Bella Luna ausgeführt: vier Frauen, plus Tia, hatten sich unter dem dreidimensionalen Sternenhimmel, der die Decke des Restaurants zierte, zwei Pizzas geteilt und sechs Nachspeisen gegessen.
Tia wurde in ihren Sitz gedrückt, als der Bus mit einem Ruck anfuhr. Ihr gegenüber saßen mehrere Bauarbeiter, die in ihren rauen Händen Sandwichtüten, Thermosflaschen und Arbeitshandschuhe hielten. Sie fuhr mit der Hand über den Krimi, den sie zu lesen angefangen hatte. Sie hatte immer ein Buch dabei, um sich von ihren Gedanken abzulenken. Das Foto von Honor hatte sie in die Mitte des aus der Bibliothek ausgeliehenen Buchs gesteckt in der vergeblichen Hoffnung, es dadurch glätten zu können, nachdem sie es idiotischerweise in den Papierkorb geworfen hatte. Während sie das Buch streichelte, kam sie auf eine Idee. Sie würde ein Album anlegen und alle Fotos von
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