Das Band der Wünsche: Roman (German Edition)
die Fotos gesehen. Sie wird gute Eltern bekommen.«
Die Augen ihrer Mutter füllten sich mit Tränen. Tias Mutter weinte nie. Sie hatte keine Tränen vergossen, als Tia sich das Bein so schlimm gebrochen hatte, dass der Knochen herausragte. Nicht, als sie von ihrer Krebserkrankung erfahren hatte. Und auch nicht, als Tias Vater verschwunden war – jedenfalls nicht in Tias Gegenwart.
»Tut mir leid.« Ihre Mutter blinzelte, und die Tränen waren verschwunden.
»Es tut dir leid? Du hast doch nichts Falsches getan!«
Ihre Mutter verschränkte die Arme vor der Brust und umklammerte ihre Ellbogen mit den Händen. »Irgendetwas muss ich falsch gemacht haben, wenn du davon überzeugt bist, dass es deinem Kind besser geht ohne dich. Gehst du davon aus, dass deine Lebenssituation sich nie verbessern wird? Siehst du denn nicht, dass deine Zukunft noch vor dir liegt?«
Tia zuckte die Achseln wie ein Kind, das sich schämt. Der Gedanke, dass ihre Mutter sterben könnte in dem Glauben, sie hätte bei der Erziehung ihrer Tochter versagt, bedrückte sie.
»Mom, das ist es nicht.«
»Was dann?«
»Ich glaube einfach nicht, dass es der richtige Weg für mich ist.« Tia bedeckte ihren Bauch mit beiden Händen. Mit jeder Lüge schien sie ihre Mutter weiter von sich wegzustoßen, und das ausgerechnet jetzt, wo sie beide mehr denn je die Nähe der anderen brauchten. »Ich glaube nicht, dass das Kind für mich bestimmt ist.«
»Bitte, warte noch mit deiner Entscheidung. Irgendetwas quält dich, auch wenn du mir nicht sagen willst, was es ist. Das ist in Ordnung. Aber glaub mir, wenn du dich dafür entscheidest, dein Kind zu opfern, um dich deinem Schmerz nicht stellen zu müssen, wirst du dich nie wieder davon erholen.«
2. Kapitel – Juliette
Normalerweise hörte Juliette Musik bei der Arbeit, aber heute nicht. Die Sonntage gehörten eigentlich der Familie, erst recht bei so schönem Wetter, aber diesmal saßen die Jungs unten und schauten sich ein Video an.
Sie hatte ein schlechtes Gewissen, obwohl sie und Nathan den ganzen Vormittag und den halben Nachmittag mit den Kindern verbracht hatten. Sie hatten im Beaver-Brook-Park eine kleine Wanderung unternommen, hatten mittags gepicknickt – Juliette war extra um sechs Uhr früh aufgestanden, um Rice-Krispies-Kekse zu backen – und sich dann mit Ballspielen vergnügt. Nach dem Ausflug hatte Nathan sich zurückgezogen, um Seminararbeiten zu korrigieren, und sie war nach oben gegangen, um Papierkram zu erledigen.
Eigentlich pflegten sie ein reges Familienleben; morgen Abend würden sie nach Boston fahren, um sich das Feuerwerk anzusehen. Trotzdem war sie nervös. Draußen schien die Sonne, und ihre Kinder hockten im Wohnzimmer vor dem Fernseher.
Großartig. Juliette konnte nur hoffen, dass ihre Kinder sich über all die faltenlosen Frauen auf den Straßen freuten, wohl wissend, dass es ihre Mutter war, die diesen Frauen das nötige Anti-Falten-Serum verkauft hatte.
Anti-Falten-Serum.
Anti-Aging-Serum.
Anti-Falten.
Anti-Aging.
Anti-Falten .
Anti-Falten hatte sich als werbewirksamer erwiesen. Vielleicht erinnerte das Wort Falten die Frauen eher an Denkfalten als an das Altern.
Vielleicht sollten sie es Intelligenz-Serum nennen. Das wäre doch was.
Sicher. Sie hörte Gwynne, ihre Geschäftspartnerin, schon lachen, wenn sie den Namen bei ihrer nächsten Marketingsitzung vorschlug. Juliette und Gwynne hatten sich im Mutter-und-Kind-Schwimmkurs kennengelernt, beide am Rand des Nervenzusammenbruchs wegen der tödlichen Langeweile, die ihnen das Dasein als Hausfrau und Mutter bescherte, gepaart mit einer Tendenz, ihre Kinder zu vergöttern. Sie hatten sich sofort wie magnetisch zueinander hingezogen gefühlt, so wie beste Freundinnen sich manchmal finden, Seelenverwandte, die sich instinktiv erkannten.
Juliette hielt die Ohren gespitzt, ob bei den Kindern auch alles in Ordnung war. Wenn sie arbeitete, war sie mit den Gedanken bei Max und Lucas. Wenn sie sich ihren Kindern widmete, war sie mit den Gedanken bei der Arbeit. Nathan riet ihr stets, sie solle sich entspannen, es gebe keinen Grund zur Beunruhigung. »Konzentrier dich ganz auf das, was gerade anliegt«, sagte er dann. Als könnte sie per Willenskraft aufhören, sich Gedanken zu machen. Vielleicht war es ein genetisches Muster, das Männern nicht nur Haarausfall bescherte, sondern auch dafür sorgte, dass sie einfach zur Arbeit gehen und ganz bei der Sache sein konnten.
Sie wusste, dass Nathan ihr nur helfen wollte.
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