Das Band der Wünsche: Roman (German Edition)
anderen Eltern für ihre Tochter umgesehen.
Tia watschelte gerade durch den Korridor des Hospizes, in dem ihre Mutter jetzt untergebracht war. In Gedanken ganz bei der verrückten Namenswahl, stolperte sie und stieß gegen einen Teewagen. Sie wurde immer unbeholfener. Ihr Leben war bestimmt von Müdigkeit, ständigem Harndrang und von Einsamkeit. Vorher hatte sich alles um ihre Treffen mit Nathan gedreht, jetzt trug sie sein Kind mit sich herum als eine unbarmherzige Erinnerung an ihn. Jedes Mal, wenn sie ihren Bauch streichelte, war es ihr, als würde sie ihn streicheln. Sosehr sie sich auch bemühte, es gelang ihr nicht, statt Traurigkeit Hass zu empfinden.
Ihre Mutter war der einzige Mensch, mit dem sie sich noch traf. Alle anderen Freunde aus ihrem früheren Leben – bis auf Robin, die in Kalifornien wohnte, viel zu weit weg, um sie zu besuchen – glaubten, sie sei für ein Jahr nach Arizona gegangen, um ihren Masterabschluss in Gerontologie zu machen, als Weiterbildung für ihre Arbeit mit alten Menschen. In Wirklichkeit war sie in den Bostoner Stadtteil Jamaica Plain gezogen, der mit South Boston nicht viel gemein hatte.
In ihrem alten Viertel lief man ständig irgendwelchen Freunden oder Bekannten über den Weg. Jamaica Plain war dagegen ein wahrer Schmelztiegel. Hier mischten sich nicht nur die unterschiedlichsten Ethnien, sondern es waren auch alle gesellschaftlichen Schichten und Altersgruppen vertreten. Der einzige Mensch, den sie hier kannte, war die Bibliothekarin der hiesigen Bücherei. Der Kontakt zwischen ihnen beschränkte sich allerdings auf ein freundliches »Hallo«, wenn sie sich begegneten. JP war das ideale Viertel für jemanden, der es vorzog, anonym zu bleiben.
Sie wollte an einem Ort wohnen, wo niemand ihren Namen kannte, denn sie hatte nicht vor, sich zum Opfer von Klatsch oder Mitleid zu machen. Da Tia kaum vor die Tür ging, hatten sie beide von den Ersparnissen ihrer Mutter leben können. Ihre Tage verbrachte sie damit, Romane zu verschlingen, vor der Glotze zu hocken und ihre Mutter zu pflegen, die zu ihr gezogen und bei ihr wohnen geblieben war, bis ihr Zustand sich so verschlimmert hatte, dass Tia mit der Pflege überfordert gewesen war.
Auf Engelsfüßen schlich Tia ins Zimmer ihrer Mutter. So hatte ihre Mutter es immer genannt, wenn Tia als Kind in die Küche geschlichen war, um sich einen Keks zu stibitzen. »Liebes, eine Mutter kann ihr Kind immer hören, auch wenn es auf Engelsfüßen angeschlichen kommt.«
Noch immer versuchte Tia, die Tatsache zu verdrängen, dass ihre Mutter im Sterben lag, während in Tias Bauch das Kind wuchs.
»Mom?«, flüsterte sie.
Im Zimmer blieb es still. Tia grub die Nägel in ihre Handfläche, beugte sich über das Bett, bis sie sah, wie der Brustkorb ihrer Mutter sich kaum merklich hob und senkte. Ihre Mutter war erst neunundvierzig. Leberkrebs hatte sie innerhalb weniger Monate zu einem Schatten ihrer selbst werden lassen. Allerdings vermutete Tia, dass ihre Mutter ihr die Wahrheit eine ganze Zeit lang vorenthalten hatte.
Seit dreiundzwanzig Tagen war ihre Mutter jetzt in dem Hospiz untergebracht. Vielleicht hielt man länger durch, je jünger man zum Zeitpunkt der Erkrankung war, oder vielleicht waren dreiundzwanzig Tage ganz normal, die durchschnittliche Spanne – wie auch immer man den Zeitraum bezeichnete zwischen der Einlieferung ins Hospiz und dem Tod. Sie konnte sich nicht überwinden, sich danach zu erkundigen. Vielleicht, wenn sie Geschwister hätte, die mit ihr zusammenhalten würden, hätte sie den Mut aufgebracht, solch unbarmherzige Fragen zu stellen, aber es hatte immer nur sie beide gegeben, sie und ihre Mutter.
Das Sterben konnte ein langsamer Prozess sein, was Tia überraschte. Man hätte meinen sollen, dass ihre Arbeit im Seniorenheim sie einiges über den Tod und das Sterben gelehrt hätte. Aber sie war vor allem für die Unterhaltung der alten Leute zuständig gewesen. In ihrem Arbeitsbereich lief das ganz simpel: Jemand erschien nicht wie verabredet zum Scrabble-Spielen, und kurz darauf stellte sich heraus, dass er oder sie verstorben war.
Man sah die Menschen nicht sterben.
Ihre Mutter zu verlieren, schien ihr undenkbar. Es war, als versuchte jemand, die Taue zu durchtrennen, die Tia im sicheren Hafen hielten. Sie würde abdriften, allein auf sich gestellt. Tia hatte sonst keine Verwandten: keine Tanten, Onkel, Kusinen, Vettern – ihre Mutter füllte alle diese Rollen aus.
Tia setzte sich auf den Stuhl neben
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