Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Banner des Roten Adlers

Das Banner des Roten Adlers

Titel: Das Banner des Roten Adlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
Vom Netzwerk:
Jetzt
lehnte er sich auf der linken Seite aus dem Führerstand und beschirmte die Augen
gegen den Rauch und den Schnee, der nun dichter fiel.
    Die Flocken wirbelten in den Führerstand hinein, und Willi
war froh über die
bullernde Hitze, die die Feuerbüchse vor ihm verströmte. Da er wissen wollte, wo sie
sich befanden, lehnte er sich rechts aus dem Führerstand und schirmte wie der
Gefreite Schweigner die Augen mit der Hand ab. Eine donnernde, von Flocken
durchsetzte Finsternis war alles, was er sah. Im nächsten Augenblick traf ihn ein
Hieb mit der Kohlenschaufel so heftig auf den Kopf, dass er Glocken läuten hörte,
oder stellte er sich das bloß vor? Er sackte auf die Knie und griff nach dem Geländer,
doch alles schien mit einer träumerischen Langsamkeit vor sich zu gehen. Dann traf
ihn ein weiterer Schlag, der ihm den ganzen Schmerz des ersten in Erinnerung rief.
»Die Königin -«, stammelte er noch, dann stürzte er vornüber. Er rutschte und hatte
das Gefühl, der Fahrtwind risse ihn aus der Lokomotive und schleudere ihn in die
donnernde Finsternis. Dann Schotter und Baumwurzeln und Eis und unter dem Eis
tiefes, stilles Wasser.
    Gefreiter Schweigner richtete sich zitternd auf. Er konnte kaum die Schaufel halten.
Aber er hatte seine Pflicht getan, zumindest den ersten Teil; das Übrige würde nicht
lange dauern.
    Er
packte
den
Schaufelgriff
beherzt
an,
warf
ein
paar
Schaufeln
Kohle in
die
Feuerbüchse und schlug die Klappe zu. Dann sah er auf den Tachometer: vierzig
Stundenkilometer, wobei die Lok gerade eine Steigung zu bewältigen hatte. Der
Druck stieg. Er blockierte das Sicherheitsventil und dann, als der Zug auf dem höchsten Punkt der Steigung auf etwas über dreißig Stundenkilometer zurückfiel, sprang
er aus dem Führerstand und rollte die schneebedeckte Böschung hinab. Mit einem
Stoß, der ihm den Atem nahm, kam er zum Liegen.
Er zog sich an dem Baumstamm hoch, gegen den er geprallt war, und wischte sich
den
Schnee
vom
Gesicht.
Oben
fuhr
der Zug
vorbei
und
gewann
wieder
an
Geschwindigkeit. Nun folgte ein längeres Gefälle, Schweigner kannte die Strecke
gut. Allerdings konnte er nicht vorhersagen, wann der Kessel explodieren würde, das
wusste nur der liebe Gott.
    Er kletterte die Böschung wieder hinauf und machte sich auf den Rückweg zu dem
etwa einen Kilometer entfernten Städtchen St. Wolfgang, wo sich, wie er wusste, ein
Telegrafenamt befand.
    Aus
dem
Kellergeschoss
einer
Druckerei
im
Studentenviertel
kamen
junge
Menschen mit Bündeln frischer Flugblätter. Sie drückten sie Passanten in die Hände,
steckten sie in Briefkästen, klebten sie an Wände, Laternenpfähle und Türen. Hier
und da standen Leute, lasen sie oder zupften einen Nachbarn am Ärmel und zeigten
darauf:
»Die Königin hat die Fahne an sich genommen. Sie ist nach Wendelstein gegangen
wie einst Walter von Esch-ten!«
     
»Das ist ein Ding! Ganz wie in alten Zeiten!« »Die bei Hof werden sich schwer
wundern ...«
    Auf den Straßen war es unruhig; an einigen Plätzen kam es zu offenen Gefechten.
Der Befehlshaber der deutschen Truppen, General von Hochberg, hielt den größeren
Teil seiner Männer noch in Reserve, weil er dachte, die raskawische Armee könnte
sich vielleicht entschließen, den mit Jagdflinten und Pflastersteinen bewaffneten
aufmüpfigen Zivilisten zu Hilfe zu kommen.
    Kaum hatte er erfahren, was oben auf dem Felsen geschehen war, ließ er Baron
Gödel verhaften. Der Oberhofmeister war darüber so aufgebracht, dass er sich
mühsam zusammenreißen musste, keinen Widerstand zu leisten.
    Kurz darauf sah General von Hochberg ein großes Feuer im Bankenviertel auflodern
und schickte sofort eine Kompanie Grenadiere mit dem Befehl, das Feuer zu löschen
und die Zivilisten zu schützen. Als Nächstes wollte er sich mit den Barrikaden
befassen, die um die Universität herum errichtet worden waren, als ein Oberst
aufgeregt angesprengt kam, eine geschlossene Kutsche in seinem Gefolge.
»Herr General! Sehen Sie nur, wer hier ist! Wir haben ihn am Bahnhof Botanischer
Garten gefunden ...« Der General betrachtete den Prinzen Leopold und seine alte
Kinderfrau, die ihm Baron Gödel zur Begleitung mitgeschickt hatte. »Wer ist das?«
»Prinz Leopold«, sagte die Kinderfrau, die den Prinzen schützen wollte, aber auch
Angst hatte, etwas Unrechtmäßiges zu tun.
    »Aha! Jetzt verstehe ich.« Der General begriff nun, was ihm bisher von Gödels Plan
verborgen geblieben war. Er warf einen Blick auf die jammernswerte Gestalt

Weitere Kostenlose Bücher