Das Banner des Roten Adlers
Stadium der Erschöpfung erreicht, in
dem
man sich
manches
vorstellt oder glaubt, manches zu sehen, was gewöhnlich unsichtbar ist. Sie meinte,
in
den
Blicken,
die Adelaide
und
Jim
austauschten,
etwas
zu
erkennen,
das
gleichermaßen wild und zärtlich, gierig und scheu und irgendwie animalisch war.
Wieder und wieder sahen sie sich an. Als Adelaide dann mit Becky in den vorderen
Wagen gegangen war und Becky die Lampe des Schlafwagenabteils angezündet
hatte, saß die Königin nägelkauend da und atmete schwer. »Hol Jim«, befahl sie
lapidar.
Becky tat wie geheißen, und als sie mit Jim zurückkam, öffnete Adelaide gerade das
kleine Samttäschchen, das sie ihr am Morgen aus dem Schreibtisch hatte holen
müssen, als sie beide im königlichen Schlafgemach aufgewacht waren. Jim zitterte,
die grünen Augen waren rot gerändert, doch in ihnen brannte die gleiche Leidenschaft wie in Adelaides. Also wirklich, dachte Becky, das ist schon ungehörig. Wenn
die beiden miteinander in Berührung kommen, explodieren sie ... Dann überraschte
Adelaide alle beide. »Eigentlich wollte ich das erst an meinem Geburtstag machen,
aber wer weiß, ob ich dazu komme, und vielleicht werden wir alle nicht mehr so
lange leben. Und falls es euch nicht passt oder ihr irgendwelche Einwände habt,
kratze ich euch die Augen aus, denn ich bin die Königin und kann tun, was ich will.
So, Jim, jetzt musst du dich hinknien. Na los, auf den Boden!« Er sank langsam auf
die Knie und sie holte einen goldenen, sternförmigen Orden an einem dunkelgrünen
Seidenband aus ihrer Tasche.
»Das ist der Orden des heiligen Stephanus. Er wird nur Adligen verliehen. Mit
anderen Worten, du bist fortan ein Adliger, ein Baron oder so etwas, genau weiß ich
es nicht mehr. Für alles, was du von Anfang an getan hast, für König Rudolf und für
das Land, nicht für mich.« Zum ersten Mal in seinem Leben war Jim sprachlos. Seine
Augen funkelten, als wäre er zornig, aber dann nahm er Adelaides Hand und küsste
sie.
Sie legte ihm den Orden um den Hals und wandte sich dann Becky zu.
»Und nun zu dir«, sagte sie. »Für dich habe ich auch etwas.« Sie holte aus dem
Täschchen eine goldene Medaille an einem dunkelroten Band. »Komm näher«, forderte sie sie auf.
Becky trat zu ihr und Adelaide heftete ihr den Orden an die Brust.
»Das ist der Orden vom Roten Adler«, erläuterte sie, »zweiter Klasse, für Zivilisten.
Weil du mir so gute Dienste als Dolmetscherin geleistet hast. Ja, und nun gehst du
bitte hinaus und legst dich im Abteil nebenan schlafen. Ich habe nämlich - ich habe
zu reden mit -« Becky verließ das Abteil, und als sie die Tür schloss, hörte sie einen
leisen Seufzer oder einen halb unterdrückten Jauchzer oder vielleicht auch beides.
Sie fühlte sich ausgeschlossen, keine Frage, aber nicht, weil sie nebenan schlafen
sollte; es war die Leidenschaft, mit der die beiden das zu tun begehrten ... ja, was
eigentlich? Sie wusste es und errötete doch bei dem bloßen Gedanken daran. Sie
begehrten es so sehr, dass Becky nur staunen konnte. Vielleicht war sie dafür noch
nicht alt genug; vielleicht brauchte es für die Leidenschaft noch ein paar Jahre; oder
vielleicht hatte sie den Menschen noch nicht getroffen, mit dem ...
Mit geröteten Wangen und dem Orden vom Roten Adler an ihrer Brust schlief Becky
ein. Währenddessen ratterte der Zug durch die stille verschneite Winternacht.
Auf dem Führerstand überprüfte der Student Willi die Instrumente. Der Zeiger des
Manometers hielt sich bei zehn Atmosphären, was nicht gerade viel war, aber auf
der anderen Seite war auch der Wasserpegel eher niedrig. Sie hatten nicht genug
Zeit gehabt, den Tank bis oben zu füllen. Konnten sie es sich leisten, die Feuerbüchse weiter
zu
beschicken
und
damit
den
Druck
zu
erhöhen? Das
könnte
bedeuten, dass sie einen Halt zum Wassertanken einlegen müssten - aber wo?
Andererseits, wenn sie nur mit mäßiger Geschwindigkeit weiterfuhren, könnte man
sie einholen ... Wie man sich auch entschied, es war vertrackt.
Doch es gab noch mehr Ungewissheiten. War die Strecke frei? Der Fahrplan sah
keine anderen
Züge vor,
aber
ein
außerfahrplanmäßiger Zug
konnte
jederzeit
auftauchen; waren in dem Fall alle Weichen zu ihrem Vorteil gestellt?
Und dann war da noch dieser Soldat, der Gefreite Schweigner. Willi wurde nicht
recht schlau aus ihm. Er hatte mit eisernem Willen Kohlen geschippt, aber kaum ein
Wort gesprochen. Auf Willis Fragen hatte er nur einsilbige Antworten gegeben.
Weitere Kostenlose Bücher