Das Banner des Roten Adlers
und viel Glück.«
Sie brauchten fünf Minuten, bis sie sich durch die Menge vor dem Hotel gekämpft
und in die dahinter liegende Seitenstraße geschlichen hatten, dann zwanzig Sekunden, um in den leeren Gepäckraum einzubrechen, und dreißig, um auf der anderen
Seite herauszukommen. Nun befanden sie sich auf einem schmutzigen Bahnsteig
unter einem großen Wasserturm und keine hundert Schritt weit entfernt, auf der
Höhe eines rußigen Stellwerkhäuschens, standen die beiden dunkelbraunen Wagen
des königlichen Zugs. Aus dem Schornstein der kleinen Lok dampfte es, und wenn
man genauer hinsah, erkannte man Willi und den Gefreiten Schweigner, die sich in
dunkler Lokführerkluft im Führerstand zu schaffen machten.
»Los, rennt«, sagte Jim und schon sprangen sie vom Bahnsteig und eilten über
unbebautes Gelände dem Zug entgegen.
Der Student Michael wartete neben der offenen Wagentür. »Wir bleiben hier«,
erklärte er, »und halten die anderen Züge auf, so lange wir können. Die Weichen
sind so gestellt, dass ihr auf die Strecke nach Andersbad kommt. Bis dort habt ihr
nichts zu befürchten. Viel Glück!«
Hände streckten sich ihnen entgegen, um beim Einsteigen zu helfen. Michael winkte
dem Lokführer. Eine Hand winkte zurück und mit einem Ruck setzte sich der Zug in
Bewegung. Sie waren davongekommen.
Achtzehn Zwielicht
Hinter ihnen waren Rufe und Schüsse zu hören - doch der Zug gewann an Fahrt und
brachte sie vom Rangiergleis auf die Hauptlinie.
Zwei Gestalten, die sich dunkel gegen den Schnee abhoben, winkten ihnen kurz zu
und beeilten sich, die Weiche hinter ihnen umzustellen. Jim atmete auf und schaute
sich um.
Sie befanden sich im hinteren Teil der beiden Eisenbahnwagen. Viel konnte er nicht
erkennen, denn das Wageninnere wurde nur vom spärlich einfallenden Licht erhellt.
Karl zündete ein Streichholz an und drehte an einer Gaslampe. Als die Flamme ruhig
brannte,
entstand
ein
deutlicheres
Bild:
Sie befanden
sich
in
einem
großen,
komfortablen Salon mit plüschbezogenen Sesseln, Teppichen auf dem Boden und
Mahagonitäfelung an den Wänden.
Adelaide legte die Fahne behutsam auf einen Tisch und strich die Falten glatt. Dann
schaute sie auf. »Herr von Gaisberg«, wandte sie sich an Karl, »würden Sie wohl die
anderen zu mir in den Wagen rufen?«
Dann sah sie, dass Becky, bleich vor Erschöpfung, sich an der Lehne eines Sessels
festhielt. »Setz dich doch«, sagte sie zu ihr und nahm selbst Platz. »Du kannst dich
gleich ein bisschen ausruhen, aber zuerst möchte ich zu allen sprechen.« Karl kam
zurück und mit ihm fünf Studenten und Unteroffizier Kogler. Adelaide forderte sie
auf, sich zu setzen, was alle taten, auch Unteroffizier Kogler, der sein Gewehr höchst
unbequem aufrecht neben sich hielt. Mit Becky als Dolmetscherin wandte sich
Adelaide an die Versammelten.
»Ihr wart alle großartig. Wie ihr selbst seht, haben wir die Fahne gerade noch retten
können; Baron Gödel war drauf und dran, sie vom Felsen zu holen. Aber wir haben
sie in unserer Hand. Damit ist Raskawien weiterhin frei und ich bin immer noch die
Königin. Die weiteren Schritte sehen so aus: Wir fahren mit dem Zug bis Andersbad dorthin führt diese Linie - und gehen direkt zur Garnison. Dort spreche ich erst zu
den Soldaten, anschließend wende ich mich an alle loyalen Bürger und fordere sie
auf, meinen Kampf zu unterstützen. Dann marschieren wir alle zur alten Burg
Wendelstein. Das ganze Land wird wissen, was das zu bedeuten hat.« Karl räusperte
sich. »Majestät, Wendelstein liegt nur wenige Kilometer von Schwartzberg entfernt.
Graf Otto ...«
Er zögerte. Aber Adelaide ermunterte ihn weiterzusprechen.
»Sind
Sie
sich
seiner
Loyalität
sicher? Wir
wissen
doch
alle,
dass
er auf
die
Thronfolge spekulierte. Steckt er vielleicht auch hinter dem Komplott?« Adelaides
Miene erstarrte und ihre Augen funkelten. Jim und Becky kannten diesen Ausdruck.
»Ich kenne Graf Ottos Absichten nicht. Ich bin lange genug Königin, um zu wissen,
was die Fahne bedeutet und was Walter von Eschten bei Wendelstein für Raskawien getan hat. Graf Otto weiß das ebenfalls. Wie er sich in dieser Lage verhalten
will, muss er selbst entscheiden. Hat sonst noch jemand Fragen?« Sie schaute in die
Runde. Die Gesichter, in die sie blickte, waren alle ernst. Niemand sprach. »Nun gut.
Wir sollten uns jetzt ausruhen und versuchen, zwischen hier und Andersbad ein
wenig zu schlafen. Macht es euch bequem. Im Übrigen bin ich stolz auf euch ...«
Becky hatte ein
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