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Das Banner des Roten Adlers

Das Banner des Roten Adlers

Titel: Das Banner des Roten Adlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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warne Sie:
Wenn ihr auch nur ein Haar gekrümmt wird, darf der Missetäter bei niemandem auf
sicheren Unterschlupf rechnen, denn ich werde ihn finden und ihm das Herz aus
dem Leib reißen, so wie er das meine gebrochen hat. Rebecca, mein Liebling ...«
    Und unvermittelt drehte sich die Mutter mit tränenerstickter Stimme zu ihrer
Tochter und streckte ihr die Arme entgegen. Beide drückten sich so fest, dass es
knackte. Ob es ihre Rippen waren oder das fischbeinerne Korsett ihrer Mutter,
konnte Becky nicht unterscheiden. Doch das störte sie nicht, denn auch sie weinte.
    Als sie sich wieder ein wenig beruhigt hatten, sagte Prinz Rudolf: »Wir müssen in
sechsunddreißig Stunden abreisen. Sie brauchen Kleidung, Fräulein - Trauerkleidung
und dergleichen. Gräfin Thalgau wird Sie beraten. Ihnen, Frau Winter, lasse ich
Bargeld zur Deckung der Kosten. Wenn Sie mehr brauchen, wenden Sie sich bitte an
die Gräfin ...«
    Und plötzlich lagen mehr Goldmünzen auf dem Tisch, als die Familie in langen
Jahren je gesehen hatte. Adelaide suchte Beckys Augen und lächelte sie ängstlich an
und ihr Lächeln wurde von Becky erwidert. Becky fragte sich, wer von ihnen wohl
den anderen mehr brauchen würde.
    Die irische Garde hatte den Spion die Baker Street hinunter bis nach Marylebone
verfolgt. Unterwegs war ständig Verstärkung zu ihnen gestoßen, bis am Ende gut
hundert schreiende Straßenjungen hinter ihm herliefen. An der Ecke Oxford Street
sprang der Verfolgte in eine Droschke. Liam und Charlie waren ihm nah genug auf
den Fersen, um die Adresse zu verstehen, die er dem Kutscher zurief. Als die
Droschke in Richtung Mayfair losfuhr, schrien sie: »Dort entlang! Folgt uns« und
rannten die Oxford Street hinunter geradewegs nach Soho.
    Atemlos hasteten sie durch Hinterhöfe und erreichten Leicester Square in dem
Moment, als die Droschke am Bühneneingang des Alhambra-Theaters vorfuhr. »Ist
er das?«, fragte Liam und Charlie schrie: »Da ist er!«, und Dermot gab die Parole
aus: »Ihm nach, JungsL«.
    Der Türsteher hatte keine Chance: Die Jungen drängten nach innen wie ein verrückt
gewordener Hornissen-schwarm. Die Abendvorstellung des Varietes ging gerade
dem Finale entgegen und die Räume hinter der Bühne, die Gänge und Garderoben
wimmelten von Künstlern, Bühnenarbeitern, Beleuchtern und Kulissenschiebern.
Aber binnen einer Minute hatten die Straßenjungen jeden Winkel des Theaters, vom
Foyer bis zur Obermaschinerie, ausgekundschaftet. »Da ist er!«
»Ich hab ihn gesehen - da auf der Leiter! «
     
»Er ist durch die Falltür verschwunden! Ihm nach!« »Da rennt er den Gang entlang!«
    Fünf Männer - Künstler, Bühnenarbeiter, Kellner -wurden nacheinander in Ecken
gedrängt, befragt und stehen gelassen, bis Liam, Charlie und Dermot den Gesuchten
in einem schmalen Gang neben dem Grünen Salon entdeckten.
    Sie stürzten
ihm
nach,
konnten
aber nicht
verhindern,
dass
er
ihnen
in
eine
Garderobe entwischte. Sie hörten noch, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte,
und hämmerten rücksichtslos gegen die Tür. »Komm raus, du Ratte. Du mieser Dieb.
Komm raus und kämpfe, du feiger Spion!«
    Drinnen blieb alles still. Aber der Lärm und das Geschrei hinter ihnen wurden immer
lauter.
»Wir
müssen
die Tür
eindrücken,
Jungs«,
sagte Liam.
Sie nahmen
Aufstellung, um sich mit der Schulter gegen die Tür zu werfen. »Eins - zwei -« Da
öffnete sie sich.
    Vor
Überraschung
wären
schauten
einer
Frau
ins
aussehenden
Frau
mit
sie beinahe hingefallen.
Sie fingen
sich
wieder und
    Gesicht:
einer
rabenschwarzen
rassigen,
dunkeläugigen,
spanisch
Locken
in
einem
schulterfreien,
scharlachroten Kleid. Sie schien so erschrocken, dass sie kaum sprechen konnte.
»Wo ist der Mann?«, fragte Liam. »Wo ist er hin?« Sie zeigte hilflos auf das offene
Garderobenfenster. »Da lang!«, rief Liam, als der Schwärm der übrigen
    Straßenjungen
die
Tür
erreichte.
Von
ihm
angeführt,
durchquerten
sie
die
Garderobe
und
kletterten
durch
das
Fenster.
Dort
ließen
sie sich
die
Wand
hinuntergleiten
und
eilten
über
die Baustelle in
der
Castle
Street,
vorbei
an
Schutthaufen, Ziegelsteinen und Bretterstapeln, wie Viehbremsen hinter einem vor
Stichen rasend gewordenen Stier her. Einem bloß eingebildeten Stier.
    Die Frau schloss das Garderobenfenster und atmete entspannt die Luft aus, die sie
angehalten hatte. Sie war außer Atem, ihr Busen wogte und sie konnte sich kaum
auf den Beinen halten. Sie verschloss erneut die Tür, zog die Vorhänge zu und

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