Das Banner des Roten Adlers
nahm
dann die Perücke ab. Sie hob ihr Kleid hoch, enthakte einen Halter an der Taille,
stieg aus den Hosen, die sich unter dem Kleid verbargen, und warf sie zu Jacke,
Weste und Oberhemd, die sich auf einem Haufen hinter der Tür befanden. Dann ließ
sie sich auf einen Stuhl vor dem Schminktisch fallen. Langsam wurde ihr Atem
wieder ruhiger. Sie löste ihr nach hinten gebundenes schwarzes Haar, holte das
blutige Messer aus dem Stiefel und putzte es an einem Seidentaschentuch ab. Dann
lächelte sie schwach und betrachtete sich von beiden Seiten im Spiegel. Jims dunkle
Ahnung war richtig.
»Eine Frau? Wie heißt sie?«
»Carmen Isabella Ruiz y Soler. Eine Schauspielerin.«
»Verlässlich?«
»Ich weiß, wie ich sie zu lenken habe.« »Das müssen Sie auch. Nun, Sie haben mich
bis jetzt nie enttäuscht, obgleich ich sagen muss, dass dies der verrückteste Plan ist,
denn ich je gehört habe. Aber trotzdem weiter so, Bleichröder. Und halten Sie mich
über alles auf dem Laufenden.«
Wir befinden uns sechshundert Meilen entfernt in Berlin. Der Mann, der gerade
gesprochen hat, ist ein grimmig ausschauender älterer Herr: ein kahler runder
Schädel, vorstehende Augen
und
ein
breiter
Schnauzbart. Er
wirft
noch einen
stechenden Blick auf sein Gegenüber, nickt und verlässt den Raum, um in seine Kutsche zu
steigen.
Beamte
im
Vorzimmer
verbeugen
sich,
Diener
öffnen
Türen,
Sekretäre folgen ihm mit den Akten, und alle bewegen sich mit einer gewissen
Scheu, denn der Mann, dem sie dienen, ist der Eiserne Kanzler, Fürst Otto von
Bismarck.
Der Mann im Arbeitszimmer legt die Hände auf die Armlehnen und lehnt sich
bequem zurück. Er ist Bankier, ebenso alt wie Bismarck, aber ohne dessen energischen Machtwillen. Bleichröder macht einen vergeistigten Eindruck: Er hat einen
edlen Kopf mit Ansatz zur Glatze, einen üppigen Backenbart, halb geschlossene
Augen, eine schmale gebogene Nase. Er wartet, bis sein Sekretär die Tür geschlossen
hat.
»Nun, Julius?«, sagt er. »Was halten Sie von der Sache?«
Das ist ein Spiel zwischen den beiden. Der junge Sekretär kramt sein Wissen über
einen Sachverhalt zusammen, stellt Vermutungen über Beziehungen an, die er nicht
kennt, und versucht so, eine Ahnung von den komplizierten Gedankengängen seines
Chefs zu bekommen.
»Raskawien ... Ist dort nicht heute der Thronfolger ermordet worden? Ich habe
davon in den Mittagstelegrammen gelesen ... Ein kleines Königreich an der böhmischen Grenze. Dort gibt es eine malerische Zeremonie - irgendetwas mit einer
Fahne ...« »Ja. Soweit ist alles richtig.«
»Ah, jetzt erinnere ich mich. Irgendein Erz wird dort abgebaut? Zinn?« »Nickel. Sehr
gut, Julius.«
»Aber ich verstehe nicht, was eine spanische Schauspielerin damit zu tun hat. Das ist
zu hoch für mich.« »Dann werde ich es Ihnen erklären. Gehen Sie doch bitte mal an
den blauen Schrank und holen Sie die Akte mit der Aufschrift >Thalgau<.«
Während der Sekretär den Schrank aufschließt, streicht der Bankier mit der Hand
über seinen Schreibtisch, legt einen Federhalter zurecht, ebenso den Tintenlöscher,
bläst Staubkörnchen fort und schaut versonnen auf eine kleine Glaskugel.
Fünf Etikette
Den folgenden Tag verbrachte Becky mit Einkäufen. Die Zeit war zu knapp, um
Kleider schneidern zu lassen; daher musste von der Stange gekauft werden, mit ein
paar Änderungen hier und da. Die Gräfin verfolgte alles mit halb geschlossenen
Augen und beschränkte sich auf knappe Anordnungen an Frau Winter, die diese in
Englisch an die Putzmacher und Damenschneider weitergab. Ferner brauchte man
Handkoffer und einen Schrankkoffer. Und Becky, die sich an ihre eigentliche Aufgabe
erinnerte, bestand darauf, Schreibhefte und Wörterbücher für Adelaide zu kaufen.
Welchen Lesestoff konnte sie für ihren Unterricht benutzen? Auch hier fehlte die
Zeit für langes Suchen: Die beiden Alice-Bücher, Black Beauty ... Und ein neues
Kartenspiel
und
ein
Spielbrett
mit
Dameund
Schachfiguren,
dazu
ein
paar
Groschenhefte von Mamas Zeichentisch, das musste reichen.
Ihre bettlägerige,
vergessliche Großmutter bekam
doch
mit,
dass
sich
etwas
anbahnte, und wurde unruhig. Im Abendlicht setzte sich Becky zu ihr und redete
beruhigend auf
sie ein. Die alte Frau verstand zwar
nicht viel, ließ aber ihre
pergamentene Hand in der Hand ihrer Enkelin ruhen und schlief schließlich ein.
Weiter ging es mit Packen, mit dem Anlegen von Listen der Dinge, die man auf
keinen Fall vergessen durfte, dann ein paar Stunden
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