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Das Banner des Roten Adlers

Das Banner des Roten Adlers

Titel: Das Banner des Roten Adlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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die
Berge, bis man den Kopf recken musste, um die Gipfel durchs Abteilfenster sehen zu
können. Gezackte Kalkfelsen vor Wolkenfetzen in zarten Farbtönungen -Aprikose,
Orange und Gelb - leuchteten im Abendlicht. Den unteren Teil der Berghänge
deckten dichte Nadelwälder, nur einmal sahen die Reisenden auf einer Lichtung
einen Jäger mit Büchse und Pulverhorn und einem Hund, der um ihn herumtollte.
Als sie ihm winkten, lüftete er seinen Hut zum Gruß. Becky fühlte sich beschwingt:
Das war ihr Land, hier war sie zu Hause. Sie kam wieder heim.
    Dampfschwaden
im
nächtlichen
Bahnhof,
ein
ausgerollter roter
Teppich,
sich
verbeugende Hofbeamte, die ihre Zylinder lüfteten, Diener, die Koffer und sonstige
Gepäckstücke auf
Wagen
luden.
Zeichen
der Trauer überall.
Alle Personen
in
Schwarz, die Fahnen für den toten Kronprinzen auf halbmast gesetzt; doch von
öffentlichen Plätzen und Parks, vom Rosenlabyrinth und den Spanischen Gärten an
der Biegung des Flusses wehten die fröhlichen Klänge der Orchester herauf, die ihr
Repertoire aus Stücken von Weber, Strauß und Suppe zum Besten gaben (dafür
mussten Kurgäste eine Steuer zahlen). Dazu läutete die große Domglocke und
weitere Glocken aus vielen alten Kirchen an Straßen und Plätzen stimmten in ihren
Stundenschlag ein. In der Luft hingen Zigarrenqualm und der Duft von Frühlingsblumen,
dazu
roch
es
nach
scharf
gewürzten
Eintöpfen,
nach
Sauerkraut
und
geröstetem Fleisch. Sie fuhren unter weit auskragenden Dächern alter Häuser, unter
Baikonen, die mit scharlachroten Geranien geschmückt waren; darunter die hell
erleuchteten Fenster von Bierkellern und Gasthäusern, an deren Wänden Geweihe,
ausgestopfte Dachse und andere Jagdtrophäen hingen. Und mitten durch die Stadt
wand sich der dunkle, rasch strömende Fluss mit dem Fels von Eschtenburg im
Hintergrund. Über der Stadt aber flatterte wie schon vor sechshundert Jahren die
Fahne mit dem roten Adler.
    Dann das Schloss: weiße Stucksäulen im Mondlicht, das Plätschern von Zierbrunnen
im Park. Reihen sich verbeugender Diener; eine Marmortreppe; Statuen, Gemälde,
Wandbehänge, Teppiche, Porzellan. Adelaide schritt mit nervöser, angespannter
Miene neben Becky, bewahrte dabei aber eine feste, würdige Haltung.
    Dann
langes
Warten
in
einem
Vorzimmer,
in
dem
zwei
Dutzend
Kerzen
auf
vergoldeten Wandleuchtern vor dunklen Spiegeln brannten, während der Prinz
seinem
Vater,
dem
König,
Bericht
erstattete.
Adelaide,
Becky
und
die
Gräfin
warteten
eine geschlagene
Stunde,
wie Becky
an
der
Messinguhr
auf
dem
Kaminsims ablesen konnte.
    Schließlich - es war eine Viertelstunde vor Mitternacht - öffnete sich die Tür. Ein
Hofmeister oder Kammerherr verbeugte sich steif und verkündete: »Seine Majestät
empfangen nun. Wenn Sie den Raum betreten, verbeugen Sie sich ein erstes Mal an
der Schwelle, treten bis vor den König und verbeugen sich ein zweites Mal. Wenn
Sie den Raum verlassen, ehe Seine Majestät ihn verlässt, müssen Sie, dem Teppich
folgend, rückwärts schreiten, bis Sie auf meiner Höhe stehen. Dann verbeugen Sie
sich wieder, drehen sich um und gehen. Folgen Sie mir.«
    Becky übersetzte alles für Adelaide. Diese trat als Erste ein, gefolgt von Becky und
der Gräfin. Sie kamen in einen großen, hell erleuchteten Salon, in dem der Prinz
nervös an einem flackernden Kaminfeuer stand. Auch der Graf war anwesend, er
wirkte
ernst und feierlich. Auf
dem Sofa aber
saß
ein alter, strenger
Herr
in
schwarzer Trauerkleidung. Er hatte einen langen grauen Backenbart, einen kahlen
Schädel und verbreitete eine abgrundtiefe Melancholie. Seine rechte Hand, die auf
der Sofalehne lag, zitterte unablässig, wie Becky bemerkte. Einen Fuß hatte er auf
ein Bänkchen gesetzt.
Die Eintretenden
verbeugten
sich,
gingen
bis
zum
Sofa
und
verbeugten
sich
nochmals. Der Kammerherr verließ den Salon.
     
»Gräfin«, begann der König mit einer heiseren, pfeifenden Stimme. »Ich hoffe doch,
dass Sie die Reise nicht zu sehr angestrengt hat?«
     
»Keinesfalls, Majestät. Danke der Nachfrage.«
     
»Die Zeiten sind schwer. Wie geht es Ihrer Cousine, Lady Godstow?«
    Wie viele Monarchen hatte auch der alte König ein phänomenales Gedächtnis für
Verwandtschaftsverhältnisse. Er wusste, dass die Gräfin eine Cousine dritten oder
vierten Grades besaß, eine englische Lady, die mit einem Herrn am Hofe der Königin
Victoria verheiratet war.
Die Gräfin strahlte vor Freude, als sich der König nun für gut zehn Minuten mit ihr
über ihre

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