Das Banner des Roten Adlers
Schlaf. Und schließlich, nach
einem kurzen Frühstück und einer hastigen Umarmung mit Tränen, ging ihre Reise
los.
Der Ärmelkanal zeigte sich von seiner stürmischen Seite, doch Seekrankheit ist kein
Thema für gesellschaftliche Konversation, das kann man in jedem Buch über Etikette
nachlesen. Und Fragen der Etikette standen für Becky an oberster Stelle, sobald die
Reisegesellschaft wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Denn kaum saßen sie
im Zug, begann die Gräfin, Becky und Adelaide über tausend Dinge zu belehren, an
die die beiden Mädchen vorher nie gedacht hätten. Über die angemessene Form,
den Kanzler zu begrüßen, über den Rangunterschied zwischen dem jüngeren Sohn
eines Grafen und dem älteren Sohn eines Barons, über das Schälen von Apfelsinen
bei Tisch, über die passenden Worte,
um ein Gespräch mit einem Bischof zu
beginnen. Alle nur erdenklichen Fragen des Verhaltens bei Hofe wurden behandelt,
bis
beiden
die Köpfe rauchten.
Und
wenn
die
Gräfin
Adelaide einmal
nicht
Unterricht in Hofetikette und Benimmfragen gab, brachte Becky ihr Lesen und
Schreiben und ein bisschen Deutsch bei.
Adelaide hätte zusammenbrechen können, doch sie war zäh; nur eine kleine Falte,
die sich zwischen den Augenbrauen einnistete und dort blieb, war ein Zeichen von
Müdigkeit. Aber selbst das verschwand, sobald der Prinz oder Becky mit ihr Halma,
Parcheesi oder Spyrol spielte. Zu Beckys Verwunderung hatte sie nie Dame spielen
gelernt, begriff das Spiel aber sofort und schlug Becky schon bei der dritten Partie.
Dann bestand sie darauf, Schach spielen zu lernen, weil ihr die Figuren interessanter
erschienen. So verging die Zeit. Am Abend ihres ersten Reisetages kamen sie durch
Essen, vorbei an den riesigen rauchenden Krupp-Stahlwerken vor einem blutig roten
Sonnenuntergang.
Sogar
vom
Zug
aus
hörte
man
das
Dröhnen
der
schweren
Hämmer, die den Stahl für Kanonen und Panzerungen schmiedeten, und Jim, der
sich leise neben Becky gesetzt hatte, sagte: »Darum dreht sich alles. Alfred Krupp
braucht Raskawiens Nickel. Wie geht es der Prinzessin?«
»Sie arbeitet unablässig. Sie wird sich übernehmen.« »Dann ist es deine Aufgabe, sie
zu bremsen. Spiel doch noch eine Partie Parcheesi mit ihr.« »Möchtest du nicht
lieber spielen?« »Ich? Das soll wohl ein Scherz sein! Ich habe Wichtigeres zu tun,
zum Beispiel mit dem Grafen zusammen Zigarren rauchen.«
Nun war er nicht mehr Mr Taylor, sondern Jim. Becky erfuhr vieles über ihn und
lernte ihn immer mehr schätzen. Im Geist entwarf sie ein Porträt von ihm für einen
Brief an ihre Mutter, doch fiel es ihr schwer, ihn zu beschreiben, weil er so anders
war als alle jungen Männer, von denen Becky je gehört hatte (die Männer, die sie
persönlich
kannte,
waren
zu
wenige,
um
von
eigener Erfahrung
sprechen
zu
können). Auf den ersten Blick schien er keck, ja sogar anrüchig, und dieser Eindruck
verstärkte sich noch, je öfter sie ihn sah. Aber das passte nicht zu dem Feingefühl
und Takt, den er im Umgang mit den aristokratischen Herrschaften an den Tag legte.
Und
doch
war
daran
keine
Spur
Speichelleckerei.
Er
betrachtete sich
von
Unterwürfigkeit,
Katzbuckeln
oder
als
ebenbürtig
-
eine
atemberaubende
Anmaßung - und er verhielt sich entsprechend. Ein Teil davon, so schien ihr, ging auf
sein Aussehen und Gebaren zurück, wie er seine modische Kleidung trug, auf die
athletische Anmut seiner Bewegungen, den fast ein wenig gestelzten Gang. Auch
das lebhafte Feuer seiner grünen, katzenhaften Augen gehörte dazu, das lässige,
amüsierte Funkeln, das sie stets umspielte, der Ausdruck der Überlegenheit, die
Aura, die vermittelte, immer weit intelligenter zu sein als alle anderen. Schließlich
war da auch der Geruch von Gefahr, der ihn stets umgab - aber das würde sie ihrer
Mutter nicht schreiben -, der Eindruck, dass er, wenn es darauf ankam, jederzeit zu
einem Kampf bis aufs Messer bereit wäre und auch daran noch sein Vergnügen
fände. Er mochte vieles sein, nur eines nicht, ein Gentleman.
Er war etwas viel Interessanteres. Was Becky allein daran hinderte, seinetwegen den
Kopf zu verlieren, war die offensichtliche Tatsache, dass er in Adelaide verliebt war.
Ein Grund mehr zur Sorge. Doch auch davon würde nichts in ihrem Brief an die
Mutter stehen.
Gegen
Ende des
zweiten
Tages
ihrer Reise änderte sich
die
Landschaft allmählich. Im schwächer werdenden Licht dampfte der Zug langsam
durch bergiges Land. Je weiter sie in den Süden kamen, desto höher wurden
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