Das Banner des Roten Adlers
einmal gehen ließ, war sie doch nie ohne
eine gewinnende Weichheit ... Er hätte endlos über sie nachdenken können. »Ich
muss eben heimlich weiterschnüffeln«, sagte er. »Das gebe ich nicht auf. Da läuft
irgendetwas im Verborgenen ab, ich weiß nur noch nicht, was ... Was steht denn als
Nächstes an?«
»Am Dienstag ist das Begräbnis«, informierte ihn Adelaide. »Darauf folgen zwei
Wochen Staatstrauer, dann die Krönung. Das bekomme ich alles irgendwie hin. Die
Gräfin sagt mir, was ich tun, wo ich stehen und wohin ich gehen muss. Aber die
Politik, die dahinter steckt, verstehe ich nicht ...«
»Überlass das doch dem König«, stichelte Jim. »Politik ist Männersache.«
Es war als Scherz gemeint, aber Becky schaltete sich ein. Ihre Stimme klang gereizt.
»Rede doch nicht so einen Blödsinn«, empörte sie sich.
»Siehst du nicht, dass Seine Majestät auf Adelaide angewiesen ist? König Wilhelm
hat ihn nie in die Staatsgeschäfte eingeweiht. Er ist nur einen Monat lang Kronprinz
gewesen, also weiß er kaum mehr als irgendeiner von uns. Obendrein erhält er so
viele widersprüchliche Ratschläge, dass ihm der Kopf raucht. Da muss Adelaide sein
bester Ratgeber werden. Er braucht sie einfach. Folglich muss sie über alles auf dem
Laufenden sein. Berichte ihr immer gleich, was du herausgefunden hast.«
Mit einem Mal blieb ihr die Stimme weg. »Das ist das Problem«, sagte Ihre Majestät,
»entweder Deutschland oder die anderen, und wenn sie nicht bald wissen, wer den
Zuschlag
bekommt,
werden
sie darum
kämpfen.
Wissen
sie es
aber,
wird
es
trotzdem Krieg geben, denn der Verlierer wird sich nicht damit abfinden wollen. Und
währenddessen läuft ein Mörder frei
herum. Was soll ich um Himmels willen
machen, Jim?« Er kratzte sich am Kopf. »Ich glaube, ich würde Dan Goldberg um Rat
fragen, und ich kann mir seine Antwort schon denken. Er würde sagen: Bring das
Volk auf deine Seite. Geh und zeige dich den Leuten, so oft du kannst. Sie kennen
dich noch nicht und wissen auch nicht, was sie von Ru... äh, Seiner Majestät halten
sollen. Ich bin zwar sicher, dass sie sich auf deine Seite stellen werden, aber dafür
musst du ihnen erst einmal die Gelegenheit geben, dich kennen zu lernen. Wenn es
dann zu einer Auseinandersetzung kommt, kannst du auf ihre Sympathie rechnen,
und das könnte am Ende den Ausschlag geben.« Er hielt inne und schaute Becky
ernst an. »Ich will dir nicht verschweigen«, fuhr er an Adelaide gewandt fort, »dass
es gefährlich werden könnte. Aber ich kann dir versprechen, dass der Richterbund das ist die Studentenverbindung mit den grün-gelben Schulterklappen - immer in
deiner Nähe sein wird. Du siehst sie vielleicht nicht, aber sie sind ständig da. Geh
also unter die Leute, aber sei auf der Hut. Das ist mein Rat.«
Adelaide nickte. »Danke, Jim.«
Er ging, als Becky müde das Halmabrett holte.
Becky ging dazu über, bei ihren Briefen an die Mutter -sie schrieb ihr zweimal die
Woche - immer mehr auszulassen. Sie teilte ihr Jims ersten Ratschlag mit, verschwieg
aber
den
zweiten.
Dafür
füllte
sie
ihre
Briefe
mit
ausführlichen
Schilderungen des Hoflebens. Zu schreiben gab es mehr als genug, denn die engste
Vertraute einer Königin zu sein war um einiges schwieriger als einer Prinzessin
Deutsch und Gesellschaftsspiele beizubringen. Die Zeit war nun knapp bemessen;
der gesamte Tagesablauf schien von einem anonymen Apparat bereits verplant zu
sein. Da musste der Unterricht - von Ludo und Schach ganz zu schweigen - in den
wenigen freien Momenten untergebracht werden. Adelaides Tag begann um sieben
Uhr,
wenn
das
Kammermädchen
ihr
das
Frühstückstablett
mit
Kaffee
und
Rosinenbrötchen brachte und das Badewasser für sie einlaufen ließ. Anschließend
zog sie die Kleidungsstücke an, die ihre Garderobiere - eine rundliche Französin, die
beim
Anblick
von
Adelaides
mitgebrachter Kleidung
blass
geworden
war
und
sogleich einen Schneider aus Paris für sie hatte kommen lassen - für sie bereitgelegt
hatte. Um halb zehn kam dann ein Sekretär und legte ihr Danksagungen für die
Kondolenzschreiben zur Unterschrift vor (sie konnte ein großes A schreiben und
sagte feierlich, dass das
genüge). Darauf trafen
die ersten Besucher ein: eine
Abordnung der Damen des Wohltätigkeitsvereins von Andersbad oder die Ehefrauen
des Kanzlers und des Senatsvorsitzenden der Universität.
Zum Mittagessen stellte sich stets irgendein langweiliger hoher Gast ein, wobei
Gräfin Thalgau alles aus der Nähe
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